Das beste Schweizer WM-Team der Geschichte ist in Riga im Viertelfinal gegen Deutschland dramatisch gescheitert (1:3). Im Rückblick – mit ein wenig Polemik angereichert – zeigt sich: Die Ursachen für den spektakulären Untergang liegen mehr neben als auf dem Eis.
Riga ist auch eine Stadt der Kultur, der Oper und des Tanzes. Nabucco ist am Mittwochabend gegeben worden. Wunderbar und nur 50 Euro das beste Ticket. Da ahnt noch niemand, dass am nächsten Tag der sterbende Schwan aufgeführt wird. Auf dem Eis. Mit den Schweizern in der Hauptrolle.
Vor einer Partie Schweiz gegen Deutschland werden Sprüche gemacht. So war es schon immer und so wird es immer sein.
Wie sich später herausstellen wird, trifft Bundestrainer Harold Kreis den Nerv. Er wird auf die Bezeichnung «Weisses Ballett» für die Schweizer in Riga (weil sie so beschwingt und elegant spielten) angesprochen und er bringt es auf den Punkt. Er kenne sich mit Oper und Ballett nicht so aus: «Aber wir werden nicht die Rolle des sterbenden Schwanes übernehmen. Mit Sicherheit nicht.»
Und dann wird genau die Nummer des sterbenden Schwanes dieses Drama entscheiden. Der sterbende Schwan ist ein ausdrucksvolles Tanz-Solo des Choreografen Michel Fokine. Zum ersten Mal aufgeführt 1905 in Sankt Petersburg.
Berühmt ist vor allem die Schlusspose dieses Solos auf dem linken Knie, während der über dem vorgestreckten rechten Bein die Arme wie Flügel zusammengelegt werden.
Ach, genau so wird der Untergang der Schweizer beginnen. Robert Mayers linkes Knie, sein linker Schoner vermag das Unheil nicht aufzuhalten, der Puck findet seinen Weg ins Tor zum 0:1.
Germany opens the quarter-finals scoring!🇩🇪🚨 Maximilian Kastner from the distance.#SUIGER #IIHFWorlds @deb_teams pic.twitter.com/SrLCz91yu7
— IIHF (@IIHFHockey) May 25, 2023
So unglücklich, so haltbar, so dramatisch. Wie sich zeigen wird: Das fatalste Gegentor unseres Hockeys im 21. Jahrhundert. Auch der zweite Treffer folgt auf der linken Seite. Dort fährt der Puck zum 1:2 ins Netz.
John Peterka with a sick wrist shot pust @deb_teams back in the lead.🇩🇪💥 #SUIGER #IIHFWorlds @BuffaloSabres pic.twitter.com/0bo2Wy07Xp
— IIHF (@IIHFHockey) May 25, 2023
Und das 1:3 beginnt mit einem schnellen Gegenangriff über die linke Seite – während eines Powerplays der Schweizer.
Der Gipfel der Demütigung.
Diese Nummer des sterbenden Schwanes ist der Beginn des Schwanengesanges unserer WM-Helden. Als Schwanengesang bezeichnet man das letzte Werk eines Dichters oder Musikers oder auch einen Untergang in Schönheit. Genau das wird es in Riga: Unser «weisses Ballett» scheitert in dramatischer Schönheit.
Und wer ist an allem schuld? Ist jetzt wieder Robert Mayer der Sündenbock? So wie im Frühjahr 2020 in Davos nach dem Scheitern in den Pre-Playoffs gegen den SC Bern?
Nein. Servettes Meistergoalie mag bei diesem Drama eine unglückliche Rolle spielen. Aber wenn wir hinterher dieses Scheitern analysieren, dann ist der Wendepunkt eine fatale Fehleinschätzung von Delegationsleiter Lars Weibel und Cheftrainer Patrick Fischer. Die Schweizer haben ihre Linie, ihre Powerplay-Stärke, ihre Präzision, ihren Schwung, ohne jede Not durch die Preisgabe des bedeutungslosen Spiels gegen Lettland aus der Hand gegeben. Die vier besten Feldspieler wurden geschont. Die Partie ging in der Verlängerung verloren und mit der ersten Niederlage zugleich die Magie und die Leichtigkeit unseres Spiels.
Das mag hinterher, wenn wir alle wissen, wie es herausgekommen ist, eine gar billige Kritik sein. Aber die Schweizer sind jetzt auf einem so hohen Niveau angekommen, dass jedes Detail entscheidet. Wer Weltmeister werden will, darf sich bei einer WM keine «Eigenfehler» leisten. Jedes Details entscheidet. Es gibt Dinge genug, die in diesem unberechenbaren Spiel nicht berechnet werden können.
Es ist wie es ist: Wir mögen zu den Grossen gehören. Aber die Arroganz, die Besten zu schonen, können wir uns noch nicht leisten. Die Konsequenz? Den Nationaltrainer wechseln? Nein, sicher nicht. Das wäre die grösste Torheit unserer neueren Hockey-Geschichte.
Patrick Fischer ist nicht zu kritisieren. Das Drama von Riga ist für ihn einfach ein unnötiger Zwischenhalt auf dem Weg nach ganz oben. Wenn es personelle Konsequenzen haben soll, wenn solche gewünscht sind, dann auf einer ganz anderen Ebene: Verbandsportdirektor Lars Weibel ist in seinem Amt zu hinterfragen.
Erst das geradezu groteske Theater um NZZ-Berichterstatter Nicola Berger (der sich nichts hatte zuschulden kommen lassen), dem die Schweizer Delegationsleitung die Akkreditierung entziehen wollte (was vom Internationalen Verband abgelehnt worden ist) und dann eine hämische öffentliche Erklärung zum erkannten und geahndeten «Pferdetritt-Foul» des Kanadiers Joe Veleno gegen Nino Niederreiter, die es in dieser Form bei einer WM noch nie gegeben hat. Lars Weibel liess offiziell eine Meldung verbreiten, wie sehr man diese Entscheidung begrüsse und wie sehr man die Aktion verurteile. Was in Riga in einflussreichen Kreisen für Kopfschütteln gesorgt hat.
Und schliesslich die fatale Einschätzung, man könne es sich leisten, das letzte Gruppenspiel bei einer WM fahren zu lassen, für die Weibel mindestens so viel Verantwortung zu übernehmen hat wie der Nationaltrainer. Und ganz nebenbei: Diese Preisgabe des Spiels gegen Lettland wird zwar nicht bei uns, aber auf internationaler Ebene als grobe Unsportlichkeit taxiert.