Analyse
Die Schweizer Eishockey-Nati ist dem ersten WM-Titel so nahe wie nie – und doch so fern

Die Schweizer Eishockey-Nati zeigt sich an der WM bisher von ihrer besten Seite. Der Traum vom WM-Titel scheint realistisch, doch genauso ist ein erneutes Scheitern im Viertelfinal möglich.

Klaus Zaugg
Klaus Zaugg
Drucken

Was für ein Spektakel! Was für ein Drama! Was für ein Sieg! 4:2 gegen Tschechien. Die Schweizer elegant, schnell, leichtfüssig und präzis wie ein «weisses Ballett». Und bei Bedarf bissig. Mit dem Rückhalt von Robert Mayer, der so etwas wie die Partie seines Lebens spielt. Andres Ambühl (39), der älteste und leichtfüssigste Stürmer dieses Turniers erzielt mit dem 2:1 und 3:1 seine WM-Tore Nummer 26 und 27.

Andres Ambühl (rechts) jubelt mit Dean Kukan über eines seiner beiden Tore gegen Tschechien.

Andres Ambühl (rechts) jubelt mit Dean Kukan über eines seiner beiden Tore gegen Tschechien.

Bild: Keystone

Die Schweizer stehen vorzeitig als Gruppensieger fest. Zum zweiten Mal hintereinander gewinnen sie die WM-Vorrunde. Dieses WM-Team ist spielerisch und taktisch das beste unserer Geschichte. Die Schweizer rocken Riga.

Der Viertelfinal ist zur Selbstverständlichkeit geworden

Die Fragen nun: Können wir gar zum ersten Mal Weltmeister werden? Oder wenigstens zum dritten Mal nach 2013 und 2018 den WM-Final erreichen? Oder haben wir erneut das Pulver zu früh verschossen? So wie vor einem Jahr, als wir als Gruppensieger und offensiv bestes Team des Turniers im Viertelfinal gegen die USA «zu null» (0:3) scheiterten?

Wir sind im Viertelfinal. Na und? Was noch vor 15 Jahren das Ziel aller Anstrengungen war, ist inzwischen eine Selbstverständlichkeit geworden. Aber den letzten Schritt ganz nach oben haben wir immer noch nicht geschafft: Die regelmässige Qualifikation für den Halbfinal. Patrick Fischer arbeitet an seiner grössten Herausforderung: Nichts ist so schwierig wie eine «Kultur der entscheidenden Spiele» aufzubauen. Die Fähigkeit, punktgenau die beste Leistung abzurufen und der immensen Belastung standzuhalten.

Der Nationaltrainer hat im Herbst 2015 das Team unter ganz anderen Voraussetzungen übernommen. Bei seinem Amtsantritt war die Zielsetzung das Erreichen der Viertelfinals. Daran hatte auch der überraschende Final von 2013 nichts geändert. Also war der ganze Formaufbau seit Jahren darauf ausgerichtet, dieses Ziel so schnell wie möglich zu erreichen und schon in der Gruppenphase das beste Hockey zu spielen. Das war die DNA unserer WM-Teams. Nur die Grossen – Schweden, Kanada, die USA, Tschechien, Finnland, Russland – können es sich erlauben in der Vorrunde die Taktik, das Systems und die Form zu justieren.

Nationaltrainer Patrick Fischer.

Nationaltrainer Patrick Fischer.

Bild Freshfocus

Patrick Fischer hat 2018 überraschend den WM-Final erreicht und ist seither bei vier Titelturnieren nicht mehr über den Viertelfinal hinausgekommen. Nun hat er diese Saison – wie die Grossen - den Formaufbau erstmals auf die Viertelfinals gerichtet. Aber sein Team spielt trotzdem bereits vorher so gut wie vielleicht noch nie bei einer WM. Sind die Schweizer erneut zu früh zu gut? Oder ist es ganz einfach die Spielstärke einer Mannschaft, die zu allem fähig ist?

National League-Spieler überzeugen

So oder so: Die Voraussetzungen sind hier in Riga nahezu perfekt. Aus der NHL stehen mit Nico Hischier, Kevin Fiala, Nino Niederreiter, Denis Malgin, Jonas Siegenthaler und Janis Moser gleich sechs Spieler zur Verfügung. Sie übernehmen die gleiche Rolle wie die Ausländer bei den Klubteams. Sie können aus einer guten eine grosse Mannschaft machen.

Nico Hischier von den New Jersey Devils ist eine grosse Verstärkung.

Nico Hischier von den New Jersey Devils ist eine grosse Verstärkung.

Bild: Keystone

Die Spieler aus der heimischen Liga sind in guter Verfassung. Auf diese Saison ist die Anzahl Ausländer von vier auf sechs erhöht worden. Die langfristigen Folgen einer so hohen Anzahl ausländischer Spieler können sehr nachteilig sein. Die kurzfristigen Folgen sind hingegen positiv: Die besten Schweizer haben nach wie vor ihren Platz in ihren Teams. Sie sind im Laufe der Meisterschaft stärker gefordert worden. Die Konkurrenz durch mehr Ausländer hat sie besser gemacht. Alles in allem zeigt sich in Riga: Unsere National League ist eine der besten Ligen der Welt.

Die Schweiz holt mehr aus ihrem beschränkten Potenzial heraus als jede andere Hockey-Nation. Wir haben nur halb so viele Spieler wie Finnland oder Schweden und mehr als zehnmal weniger als die USA und Kanada. Aber spezielle Strukturen machen dieses Wunder möglich: In keiner anderen grossen Hockey-Nation haben Talente die Möglichkeit, so lange zu reifen. In Skandinavien und Nordamerika wird in der Regel mit 18 der Weizen von der Spreu getrennt. Bei uns ist es auch nach 20 noch möglich, eine Profikarriere zu starten.

Das Schweizer Eishockey: Ein fragiles Konstrukt – nach wie vor

Und doch: Ein erneutes Scheitern im Viertelfinal ist so gut möglich wie ein WM-Titel. Wir sind dem ersten WM-Triumph so nahe wie noch nie und doch so fern. Deshalb wird es bei einer finalen Beurteilung wichtig sein, die Dinge im richtigen Licht zu sehen: Im Falle eines Scheiterns das Kind (bzw. den Nationaltrainer) nicht mit dem Bade auszuschütten und im Falle eines Triumphes nicht vergessen, auf welch dünnem Eis wir nach wie vor stehen.

Unser Hockey bleibt ein fragiles Konstrukt, das davon lebt, dass die kommerziellen und sportlichen Interessen einigermassen im Gleichgewicht bleiben. Für Patrick Fischer wäre ein erneutes Scheitern bloss ein ärgerlicher Zwischenhalt auf dem Weg zum ganz grossen Ziel WM-Titel. Und er müsste dann eine plausible Antwort auf die Frage finden: Warum sind wir auch mit dem besten Team unserer WM-Geschichte nicht über den Viertelfinal hinausgekommen?