Zwingli und das Elentier

Speerspitz

Serge Hediger
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Wir schreiben den 10. August 1539. Vor einem halben Jahr ist Anna Reinhart verstorben, die Witwe Huldrych Zwinglis (1484–1531). Um die gemeinsamen, noch unmündigen Kinder kümmert sich ein Vormund, der an diesem Tag ein Inventar des Zwinglischen Nachlasses erstellt. Akribisch genau listet er zuhanden des Schirmvogtes die vererbten Geld- und Sachwerte auf, so beispielsweise «1 juchart reben» in Meilen am Zürichsee, «2 sässel», «2 underrögk», «13 ässschüsslen» – und «1 Ellentzbeinle an eynem silbrigen kettenle gefasset».

Ein Ellentzbein an einer silbernen Kette, was genau ist das?

Als Elentier wurde einst – man sagt, seines beelendenden Blickes wegen – der Elch bezeichnet. Die Klauen dieser Hirschart galten in der Volksmedizin als probates Mittel: Als Amulett getragen heilten sie die Fallsucht, wie die Epilepsie früher genannt wurde. Pulverisiert wirkten sie gegen Kopfschmerzen. Fingerringe, speziell aus den Klauen des rechten Hinterfusses gedrechselt, schützten vor dem bösen Blick. Und unter das Kopfkissen gelegt linderte das Ellenbein die Beschwerden Gichtkranker. Kein Wunder, wurde das Universalheilmittel rar und teuer, weshalb Betrüger sich mit gewöhnlichen Kuhklauen aushalfen und die gutgläubigen Kranken übers Ohr hauten. Noch der grosse Zürcher Universalforscher Conrad Gessner handelte das Elentier in seinem Tierlexikon von 1583 ab – unmittelbar nach dem Einhorn.

Wenn man weiss, dass solche Schutzamulette vor 500 Jahren weit verbreitet waren, so beginnt man Huldrych Zwingli in seinem ihm nachgesagten «unverdrossenen Kampf gegen Irrthümer und Aberglauben» etwas besser zu verstehen.

Serge Hediger

serge.hediger@toggenburgmedien.ch