Spricht Walter Scheitlin über das Sammeln, funkeln seine Augen wie die eines jungen Schatzsuchers. Der Kunstconnaisseur muss jetzt aufhören. Sein Alter zwingt ihn dazu.
Daniel Wallimann
Aus dem Schaufenster in der Wiler Altstadt lugen grimmige afrikanische Masken und eine Wächterfigur heraus. Ihre Münder sind spitz geformt, so als würden sie sagen: Hier wachen wir. Offenbar ersetzen sie die moderne Sicherheitstechnik. Denn über dem Eingang zur Galerie Rathaus – gleich um die Ecke – hängt weder eine Kamera noch eine Alarmanlage.
Als der 94-jährige Walter Scheitlin die Tür öffnet, ertönt ein Glockenspiel – wie in einem Tante-Emma-Laden, in dem Kinder Schleckstängel aus Glasbehältern fingerten. Im vierstöckigen Riegelhaus oben in der Wiler Altstadt zeigt sich aber ein anderes Bild. Es wartet eine kolossale Sammlung aus handwerklichen Raritäten, die bis unter das Dach reicht. Dämonen, Götter, handgefertigte Vasen oder Skulpturen, die der Kunstsammler aus allen Ecken der Welt über die Jahre zusammentrug. Er hortet sie in Vitrinen und Ablagen. Dazwischen liegt Staub. Wie viele es sind, weiss der Kunstsammler, Galeriebesitzer und Nachtwächter in Personalunion auch nicht mehr so genau. Er selber trägt T-Shirt und Pluderhose und geht am Stock. «Bitte entschuldigen Sie meinen Aufzug», sagt er erklärend. Das sei so nicht gewollt. Normalerweise empfängt er seinen Besuch in Anzug und Krawatte. Weil er der Gesundheit wegen einige Tage im Spital war, sind die meisten seiner Kleider noch in der Reinigung. «Dass ich mein eigener Herr und Meister bin, hat zwar viele Vorteile», sagt der Junggeselle. Da er weder Frau noch Kinder hat, muss er sich um alles selber kümmern. Wegen seines stolzen Alters von 94 Jahren macht sich der Galeriebesitzer auch Gedanken über den Verbleib seiner Schätze. Er will gar nicht daran denken, dass sie eines Tages in alle Winde verstreut sein könnten. «Das raubt mir den Schlaf», sagt Walter Scheitlin. Zurzeit lebt er aber noch als vermutlich einziger Galerist inmitten seiner Schätze. Wie lange noch? Er hat klein angefangen. «Damals waren Zürichs Brockenhäuser und Flohmärkte die besten Schulen für mich», sagt Scheitlin. Da lernt man schnell die Spreu vom Weizen zu trennen. Zu seiner Sammlerkarriere trug der ältere Bruder Werner auch wesentlich mit bei. Dieser war Kunstmaler und für ihn wie ein Vorbild: «Ich hielt ihn für den besten Maler und wollte so sein wie er.» Doch er sei dafür nicht talentiert genug gewesen. Dafür hat er Ausdauer und den richtigen Riecher. «Wichtig war für mich, Objekte mit meinem geschulten Auge zu kaufen, auch wenn sie niemand wollte», sagt Scheitlin, der Europa nie verlassen hat und in seinem Leben kaum gereist ist.
Sein Feuer spürt man im Gespräch. Denn zu fast jeder Kuriosität weiss der Galerist eine Geschichte. Doch überleben kann man von der Sammelleidenschaft nicht. Er musste zwischendurch auch etwas verkaufen. Ungern trennte er sich von seinen Schätzen, sagt er. «Und wenn, dann musste mir der Käufer sympathisch sein.» In dieser Beziehung war für ihn die Stadt Wil ein idealer Standort: «Das Sammeln fällt in dieser Stadt leichter als das Verkaufen.» Seine besten Kunden waren früher Ärzte oder Zahnärzte. Zahlreiche Trouvaillen hat er mit einem Gegengeschäft veräussert. «Einem solchen Kuhhandel verdanke ich meine guten Zähne», sagt er. Dass all die Schätze echt sind, dafür würde Walter Scheitlin seine Hände nicht ins Feuer legen. So befinden sich in seiner Sammlung zum Beispiel unsignierte Frühwerke von Adolf Dietrich. Echt sind die Gemälde von Eduardo Samartino, die vorwiegend Frauen darstellen. Samartino war ein italienischer Avantgardist, der durch die halbe Welt wanderte und ab 1978 einige Jahre bei Walter Scheitlin in Wil verbrachte. Die beiden wurden Freunde. Als der Maler starb, war Walter Scheitlin an seinem Totenbett.