Wie schön kann das Leben sein

Ich bin alt geworden und neugieriger denn je aufs Leben, auf ein Leben mit Schönheit, Harmonie, Kunst, Liebe.

Drucken

Ich bin alt geworden und neugieriger denn je aufs Leben, auf ein Leben mit Schönheit, Harmonie, Kunst, Liebe.

Gegen Mittag aufzustehen, sich die Augen zu reiben, die Arme zu strecken, was für ein Wohlgefühl, und dann die erste Tasse Kaffee zum Buttergipfeli. Und um keinen Stress aufkommen zu lassen, setze ich mich in den Drehfauteuil, zünde mir eine Pfeife an, nehme Band 2 des grossen chinesischen fünfbändigen Gesellschafts- und Sittenromans in die Hand, er heisst «Djin Ping Meh, Schlehenblüten in goldener Vase», entstanden in der Spätzeit der Ming-Dynastie (16. Jahrhundert), ein höchst realistisches Buch eines anonymen Verfassers, der ein mit Witz und Humor begabter Menschenkenner gewesen sein muss, konfuzianisch gebildet, aber auch erfahren in den taoistischen und buddhistischen Welt- und Lebensdeutungen; was da der Hausherr zwischen Ehebett und Bordell, bei Geburten und Hochzeiten, in der Politik und Intrigen durchmacht, ist ein fabelhaftes Lesevergnügen.

Nachmittags entsorge ich die letzten elektronischen Geräte, stelle bunte Kerzen auf, und, da kommt mir ein Geistesblitz: Auf meinen Telefonbeantworter spreche ich: Wollen Sie mit mir Kontakt aufnehmen oder mir etwas mitteilen, schreiben Sie eine Karte oder einen Brief.

Telefonisch gebe ich keinen Menschen mehr Antwort, und ich habe mich nicht getäuscht, in den nächsten Tagen kommen Karten und Briefe, die ich alle in Ruhe bei Kerzenschein lesen kann. Kurze Mitteilungen werfe ich in den Papierkorb, denn es lohnt sich nicht, darauf Antwort zu geben. Auf längere Briefe antworte ich mit einem langen Brief. Was für eine schöne, sinnliche Zeit erlebe ich da.

Abends setze ich mich ans Seeufer, schaue in die Wolken, geniesse den Vogelgesang.

Nachts lese ich unter meiner Leselampe in den Biographien von Malern, nehme bei einem Streichquartett von Franz Schubert ein Glas Châteauneuf-du-Pape, ein paar zungenkräuselnde Schlückchen Mirabellenschnaps.

Wie schön kann das Leben sein!

Paul Gisi