«Was ich euch nicht erzählte»

Medientip der Appenzeller Bibliotheken

Esther Gähler, Bibliothek Teufen
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Lydia ist tot. Aber das wissen sie noch nicht. So die ersten Sätze dieser vielschichtigen und berührenden Familiengeschichte aus dem asiatisch-amerikanischen Milieu der Siebzigerjahre. Die sechzehnjährige Lydia Lee verschwindet eines Nachts aus ihrem Daheim in einer Kleinstadt in Ohio. Als sie nicht zum Frühstück erscheint, beginnen Vater James, Mutter Marilyn, Bruder Nathan und die kleine Schwester Hannah verzweifelt nach ihr zu suchen. Tage später bemerkt ein Spaziergänger ein auf dem nahen See treibendes Ruderboot, und die Polizei findet die tote Lydia im Wasser. Schon bald stellt sich die Frage nach einer Selbsttötung. Weshalb war das Mädchen, das nicht schwimmen konnte, nachts auf dem See? War sie allein dort? In zahlreichen Rückblenden zeigt sich den Lesenden je länger, je mehr ein Bild der Familie Lee, das sich nicht immer deckt mit jenem, das sich die Eltern im Laufe der Jahre zurechtgerückt hatten. Was hat sich im Vorfeld von Lydias Verschwinden abgespielt?

James, Sohn chinesischer Einwanderer, und Marilyn, die amerikanische Studentin, lernen sich an der Universität kennen. James arbeitet bereits als Wissenschafter und Universitätsdozent und kann sein Glück nicht fassen, dass sich diese intelligente junge Frau für ihn interessiert. Als Chinese der Unterschicht, der stets wegen seiner Herkunft verspottet wurde und nie dazugehört hat, sieht er das Glück endlich auf seiner Seite. Er hoffte, im College würde sich alles ändern. Aber nach sieben Jahren in Harvard hatte sich nichts geändert. Ohne dass ihm der Grund bewusst war, befasste er sich während seines Studiums mit dem amerikanischsten aller Themen überhaupt – Cowboys –, aber seine Eltern oder seine Familie erwähnte er nie. Marilyn, einst angehende Medizinerin, gibt ihre beruflichen Ambitionen auf und widmet sich fortan dem Wohlergehen der Familie. Erst später wird ihr bewusst, wie sehr sie zu einem Abbild ihrer Mutter wurde, deren Leben sie doch so verabscheut hatte. Ohne Mann und Kinder wäre es vielleicht möglich gewesen. Ich hätte das schaffen können, dachte Marylin, und die Worte setzten sich in ihr fest wie Puzzleteile und schockierten sie mit ihrer Richtigkeit. Das hypothetische Plusquamperfekt, die Zeit der verpassten Chancen.

Auf einfühlsame und subtile Art zeichnet die Autorin auf, was mit den Kindern geschehen kann, wenn sich die Eltern zu sehr über ihre Söhne und Töchter definieren, wenn sie ihre eigenen Lebensträume auf sie übertragen und sie um jeden Preis vor den selber erlittenen Verletzungen schützen wollen. Und Lydia – der unfreiwillige Mittelpunkt ihrer Familie – hielt jeden Tag die Welt zusammen. Sie schluckte die Träume ihrer Eltern und unterdrückte den Widerwillen, der in ihr brodelte. Die traurigen Ereignisse zwingen die Familienmitglieder, ihr Leben zu über­denken und eingespielte Rollen zu hinterfragen. Gelingt ihnen ein Neuanfang als Gemein-schaft?

Dieses Buch ist der Debütroman von Celeste Ng (sprich Ing), die selber chinesische Wurzeln hat. Sie löste mit ihrem Erstling in den USA eine enorme Begeisterung aus, schaffte sie es doch auf Platz 1 der Amazon-Top-100-Liste 2014, noch vor vielen anderen namhaften Autoren. Auch gewann sie damit mehrere Preise.

«Was ich euch nicht erzählte», Roman, München: dtv, 2016. (978-3-423-28075-4)

Esther Gähler, Bibliothek Teufen