Die Kombination aus landwirtschaftlicher Nutzung und heimarbeitlicher Textilproduktion brachte im Appenzellerland einen ganz eigenen Baustil hervor. Dieser wird erhalten und weiterentwickelt.
Die Appenzellerhäuser sollen einst von einem Riesen am Bodensee zusammengesammelt worden sein, heisst es in der Sage. In einem Sack trug er sie zum Alpstein hinauf. Doch wegen eines Loches kullerten die Häuschen über die Hügel und verteilten sich gleichmässig in der Landschaft rund um den Säntis. In Tat und Wahrheit war bei den heimischen Streusiedlungen wohl kein Riese am Werk, sondern die Menschen. Die Besiedlung des Appenzellerlandes begann vermutlich im 8. Jahrhundert. Ab dieser Zeit wurde der Urwald am Alpstein gerodet. Erste Erwähnungen wie der Schwänberg bei Herisau datieren auf das Jahr 837. Bei diesen Häusern dürfte es sich um einfache fast fensterlose Blockbauten gehandelt haben, wie sie zu jener Zeit im Voralpenraum üblich waren. Hier hausten Bauernfamilien mit ihren wenigen Tieren.
«Bis im 15. Jahrhundert verfügt das Appenzellerhaus noch kaum über gebietsspezifische Merkmale», sagt Fredi Altherr, scheidender Denkmalpfleger von Appenzell Ausserrhoden. Er hat sich in seiner 17-jährigen Tätigkeit vertieft mit den Eigenheiten des Appenzellerhauses befasst. «Der Appenzeller Baustil entwickelte sich erst mit dem Einsetzen der Heimweberei.» Ab dem Mittelalter war nicht mehr die Milch- und Fleischproduktion alleinige Einnahmequelle der Bevölkerung. Mit der Weberei liess sich mehr Geld erwirtschaften. Dieses wurde wieder in den Um- und Neubau der Häuser gesteckt. Eine Besonderheit des Appenzellerhauses ist die Süd-Südostausrichtung der Hauptfassade. Sie liess durch die Fensterreihen am meisten Tageslicht ins Gebäudeinnere bringen, was für die exakte Arbeit am Webstuhl wichtig war. Während die Struktur des Block- oder Strickbaus praktisch unverändert weiter bestehen blieb, wurde die Hauptfassade schrittweise modernisiert und den Bedürfnissen und dem Zeitgeschmack angepasst. Die Fensterfronten wurden vergrössert und mit Holzläden versehen. Die Fassaden präsentieren sich zunehmend vertäfert und mit Zierelementen geschmückt. Im 18. Jahrhundert traten die neuen Fabrikantenhäuser aus Stein in Konkurrenz mit den Holzbauten. Vermutlich um gegenüber den hellen Sandsteinfassaden nicht abzufallen, wurden den von der Sonne verbrannten Täferfassaden seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit heller Ölfarbe ein "edleres“ Erscheinungsbild verpasst. Die Bedeutung der Textilarbeit war damals gross: Zur Zeit der Französischen Revolution arbeiteten weniger als 20 Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft. «Appenzell Ausserrhoden gehört im 18. Jahrhundert zu den am frühesten industrialisierten und am dichtesten besiedelten Gegenden Europas», so Altherr.
Bis in die 1860er-Jahre dienten die Appenzeller Häuser vornehmlich als Wohn- und Arbeitsorte der in der Heimweberei tätigen Bevölkerung. Danach setzte ein Wandel in der Textilproduktion ein. Die Maschinenstickerei versprach höhere Gewinne. Neben der Produktion in den grossen Stickereifabriken wurde zunehmend auch in Heimarbeit gestickt. Um 1910 stand in jedem sechsten Ausserrhoder Haushalt eine Stickmaschine. Die gusseisernen Ungetüme verlangten nach anderen Standortbedingungen als die Webstühle in den feuchten Kellern. Die Räume mussten hell und trocken sein. Wo es die Finanzen und die Topografie zuliess, wurden Sticklokale an die Häuser angebaut. Letztere zeichnen sich durch ein gemeinsames Merkmal aus, sie verfügten statt der bekannten Fensterbänder über grosse Einzelfenster. Dieses Stilelement wurde aus der Massiv- oder Riegelbauweise übernommen, denn es ist im Strickbau unmöglich und zudem war Bauholz knapp. Diese Anbauten boten eine Neuerung: das Flachdach. Es wurde gerne zum Wäscheaufhängen genutzt. Doch die Stickereiblüte war nicht von langer Dauer. Nach drei Generationen war Schluss. Heute dienen viele dieser Lokale als Wohn- oder Gewerberäume. Den ehemaligen Schwerpunkten der Textilproduktion vom Rheintal bis ins Zürcher Oberland wurde von verkehrstechnisch besser erschlossenen Gegenden in weniger hügeligen Lagen der Rang abgelaufen. Wegen der wirtschaftlichen Stagnation im Appenzellerland stockte auch die Bautätigkeit. Die Folge ist ein gegenüber dem Schweizer Durchschnitt dreimal höherer Altbaubestand. Rund die Hälfte der heutigen Bauten wurden vor 1919 erstellt. Und prägen bis heute die Ausserrhoder Dörfer und Landschaft.
Glücklicherweise geniessen die historischen Wohnhäuser in den Dörfern wieder mehr Wertschätzung und Aufmerksamkeit. In den letzten Jahren wurde sichtbar mehr renoviert und umgebaut. Die Entwicklung der Appenzeller Haustypen ist, hoffentlich, noch nicht zu Ende. Seit den 1950er-Jahren kümmern sich Architekten zusammen mit privaten und öffentlichen Institutionen um deren Erhalt und eine zeitgemässe architektonische Weiterentwicklung. Sorgfältig geplante und ausgeführte Ersatzbauten für marode Dorfhäuser zeugen davon.