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Ein Patient von Luzius Knöpfli starb an Covid-19. Trotzdem findet der Walzenhauser Hausarzt, dass man die Leute vor zu viel Medizin schützen muss.
In Luzius Knöpflis Arztpraxis in Walzenhausen herrscht auf einmal gespenstische Ruhe. Vor der Coronakrise war das Wartezimmer voll und der Betrieb in den Gängen emsig gewesen. Wegen der hohen Ansteckungsgefahr müssen nun Begleitpersonen draussen warten und Patienten die Praxis nur noch einzeln betreten. Dies aber nur, wenn sie kein Fieber aufweisen.
In solchen Fällen findet die Visite an der frischen Luft statt und ein Abstrich bei Verdacht auf eine Coronainfizierung gar in der Tiefgarage. Der Patient bleibt im Auto sitzen, die Handgriffe durch das Praxispersonal erfolgen über das Seitenfenster – ausserordentliche Zeiten erfordern ausserordentliche Massnahmen.
So oder ähnlich haben viele Hausarztkollegen von Luzius Knöpfli im Appenzellerland auf die Ausnahmesituation reagiert. Obwohl sich der Walzenhauser nicht als Sonderfall betrachtet oder, wie er mehrmals betont, in den Vordergrund drängen möchte, fällt seine Praxis doch auf.
In den vergangenen Wochen hat der 62-Jährige zwölf Personen auf das Coronavirus getestet und sieben – zwei Ausserrhoder, fünf Rheintaler – waren positiv. «Das ist eine hohe Quote für eine Landarztpraxis», sagt Knöpfli. Vor allem, weil er wie vom Bundesamt für Gesundheit BAG empfohlen nur Risikopatienten und Gesundheitsfachpersonen dem Test unterzogen hat. Der Vorderländer hatte zudem den 86-Jährigen in ärztlicher Behandlung, der am 21. März als erste Person in der Ostschweiz an den Folgen von Covid-19 starb.
Luzius Knöpfli ist als Mediziner, der seit fast 30 Jahren in Walzenhausen praktiziert, weit über die Kantonsgrenze hinaus bekannt. Das erste von mehreren Gesprächen mit dem Hausarzt findet vor knapp zwei Wochen in seiner Praxis im Dorfzentrum statt. Der Zwei-Meter-Sicherheitsabstand wird strikt ein- und die Mundschutzmaske aufbehalten.
Mit expliziter Einwilligung der Witwe spricht Knöpfli über den tödlichen Krankheitsverlauf seines 86-jährigen Patienten. Diese Offenheit überrascht angesichts der traditionellen Zurückhaltung der Ärzte, wenn es um Patientenschicksale geht. Wegen der angespannten Situation mit den Schreckensmeldungen über steigende Ansteckungskurven und Zunahme der Covid-19-Todesfälle schweiz- und weltweit möchte Knöpfli aufklärerisch wirken. Er wolle den Respekt vor dem Virus fördern, aber gleichzeitig vor allem älteren Menschen die Angst nehmen. «Denn viele betagte Ausserrhoder und Ausserrhoderinnen fragen sich: Stehe ich schon auf der Todesliste?», sagt er und beantwortet die Frage gleich selbst. «Das Virus hat keine Flügel.» Damit meint er: Wer Abstand wahre, Ansammlungen vermeide und Hygienevorschriften befolge, habe wenig zu befürchten.
Wie hoch die Mortalitätsquote des Virus und wie gross die Übersterblichkeit ist, darüber streiten nicht nur Laien. Knöpfli verweist auf Zahlen aus Italien. Laut den dortigen Gesundheitsbehörden liegt das durchschnittliche Alter der Verstorbenen bei rund 80 Jahren. Die meisten litten an Vorerkrankungen. Bei jüngeren Menschen sei der Krankheitsverlauf hingegen eher mild. «Es gibt immer bedauernswerte Ausnahmen, wie Medienberichte zeigen, aber das sind statistische Ausreisser», sagt Knöpfli.
Und er argumentiert ähnlich wie der St.Galler Infektiologe Pietro Vernazza, der kürzlich in dieser Zeitung festhielt, dass es häufig Menschen treffe, die am Ende ihres Lebens stünden. Oder in den Worten des Walzenhauser Arztes:
«Jetzt sterben viele Menschen in kurzer Zeit, die ansonsten innerhalb von vielleicht zwei Jahren aus dem Leben geschieden wären.»
Knöpflis betagter Patient litt ebenfalls an schweren Vorerkrankungen. Die Medikamentenliste sei lang gewesen; sein Tod traurig und bedauernswert, aber nicht überraschend gekommen, sagt der Hausarzt. Zunächst war der Krankheitsverlauf mit Fieber- und Hustenanfällen harmlos, in der zweiten Phase litt der Patient unter einer schweren Lungenentzündung. Die Visiten fanden aus Sicherheitsgründen jeweils im Garten des Patienten statt, Arzt und Assistentin trugen Schutzkleidung.
Der CRP-Wert, der Aussagen zur Infektion im Körper macht, lag zuletzt bei über 200. Zum Vergleich: Bei gesunden Menschen beträgt er weniger als 10. Der Sauerstoffsättigungsgrad im Blut sank auf 85 Prozent. Trotz acht Litern Sauerstoff pro Tag, die dem Patienten im Spital zugeführt wurden, erholte sich der Wert nicht mehr. Knöpfli sagt:
«Gemeinsam mit dem Patienten und dem Spitalarzt haben wir entschieden, auf eine Intubation zu verzichten.»
Die Bilder aus Cremona oder Bergamo mit dutzenden Menschen mit Masken und Schläuchen, bäuchlings auf Betten liegend, wirkten abschreckend.
Während Knöpfli dies schildert, klingelt sein Smartphone. Die Witwe meldet sich zur telefonischen Tageskontrolle. Über den Lautsprecher redet sie mit dem Journalisten. Sie erzählt, wie sie gemeinsam mit ihrem Mann in Quarantäne war. Ihm sei es immer miserabler gegangen und er musste schliesslich ins Spital überführt werden, wo er nach zwei Tagen starb. Verabschieden konnte sie sich nicht mehr. Sie spricht von einem raschen und schmerzlosen, und vor allem von «einem würdigen Tod.»
Trotz des Rückschlags, einen geliebten Menschen verloren zu haben, ist die Stärke der 76-Jährigen beeindruckend. Ihre Stimme ist kräftig und vital. Sie sagt denn auch:
«Man darf nie die Lebensfreude verlieren.»
Erstaunlich ist: Die Seniorin hat sich ebenfalls mit dem Coronavirus infiziert. Sie ist mittlerweile wieder gesund, einzig das Hörvermögen hat etwas nachgelassen, dies wohl aber nur vorübergehend, wie bisherige Erfahrungen mit der Covid-19-Krankheit zeigen. Die Witwe hat sogar Kraft genug, sich um den ebenfalls erkrankten Sohn zu kümmern. Sie habe ihm soeben Ingwertee und Bananen serviert, erzählt sie stolz.
Schweizer Wirtschaftsvertreter und Politiker diskutierten in den vergangenen Tagen hitzig darüber, wie es mit den Restriktionen weiter gehen soll, die der Bundesrat zur Eindämmung des Coronavirus erlassen hat. Sollen die Massnahmen verschärft, etwa vor Ostern, oder bald wieder zurückgefahren werden? Der Walzenhauser lehnt längere Ausgangssperren vehement ab.
«Für ältere Menschen wäre eine solche tödlich.»
Knöpfli argumentiert nicht nur mit den schweren psychischen Belastungen, die eine verlängerte Isolation auslösen könnte. Er führt vor allem die sogenannte Sarkopenie ins Feld. Der altersbedingte Abbau von Muskelmasse und -kraft geht meistens mit einem Bewegungsmangel einher. Und dieser schadet dem Herz-Kreislaufsystem, Gehirn und Stoffwechsel schwer.
Knöpflis Rechnung lautet wie folgt: «Aus einem älteren, gesunden Menschen, der eingesperrt ist, wird ein kranker; aus einem kranken ein sehr kranker, und einem sehr kranken ein tödlich kranker.» Deshalb ruft er ältere Menschen auf, sich auch während der Coronakrise zu bewegen. Am besten zu Hause mit Gymnastikübungen oder allenfalls bei Spaziergängen im Freien, aber selbstverständlich nur mit dem nötigen Abstand und fern von Menschenmassen.
Am Herzen liegt Knöpfli eine Studie, die 2011 in der Fachzeitschrift «British Medical Journal» publiziert und kürzlich von der NZZ aufgenommen wurde. Forscher untersuchten, wie schnell der Sensemann unterwegs ist. 1700 Männer im Alter von 70 und mehr nahmen an der Studie teil. Das Resultat der Mortalitätsstatistik: Wer schneller als 3,2 Kilometer pro Stunde gehen konnte, hatte vom Schnitter weniger zu befürchten. «Das Coronavirus hätte ein leichtes Spiel, wenn die Muskulatur abnimmt und der Patient schlecht zu Fuss ist», sagt Knöpfli.
Für den Arzt aus Walzenhausen haben der Schutz der älteren Bevölkerung und die Vermeidung einer Überlastung des Gesundheitswesens oberste Priorität. Um jüngere Menschen macht er sich weniger Sorgen. Er sagt:
«Dem Virus können wir nicht mehr aus dem Weg gehen, die meisten von uns werden oder haben sich bereits infiziert.»
Wenig verwunderlich betrachtet er die weitergehenden Restriktionen kritisch, auch dass die medizinische Versorgung stark nachgelassen habe. «Die anderen Krankheiten bestehen weiter und dürfen nicht plötzlich übersehen werden.»
Er hofft, dass nach Ende der Pandemie eine faktenbasierte Aufarbeitung erfolge. Er wünscht sich darüber hinaus eine Diskussion über das Sterben und die Rolle der Medizin. «Die Gesellschaft wird von einer Fehlentwicklung eingeholt», sagt Knöpfli, der als junger Assistenzarzt in der Notfallmedizin am Zürcher Triemli Spital arbeitete. «Der Mensch hat verlernt zu sterben.»
Seiner Meinung nach müsse man die Bevölkerung vor zu viel Medizin schützen. Wie schwierig und auch befremdlich für Laien eine solche Diskussion sein kann, zeigt ein kürzlicher Entscheid der Elsässer Behörden. Wegen der Überlastung der Spitäler in der Coronakrise werden über 80-Jährige nicht mehr beatmet. Sie erhalten dafür eine Sterbebegleitung.
Knöpfli sagt, man bringe die alten Menschen nicht um, doch man dürfe den Abschied vom Leben nicht auf unangemessene Art verzögern. «Nicht bei jedem Menschen müssen wir das komplette Instrumentarium der Intensivmedizin anwenden. Das heisst aber nicht, dass wir Ärzte uns nicht einsetzen und gewisse Leben nicht lebenswert wären. Es ist aber noch kein gesunder Mensch gestorben. Ein würdiger Tod gehört zum Leben.»