«Unsere Arbeit ist Entwicklungshilfe»

GANTERSCHWIL. Ulrich Müller-Knapp ist Arzt der Psychiatrie und Psychotherapie. Seit dem 1. Januar 2013 ist er Leiter und Chefarzt der Klinik Sonnenhof in Ganterschwil. Mit der Öffnung gegenüber der Bevölkerung möchte er den Bekanntheitsgrad der Klinik in der Ostschweiz fördern.

Christiana Sutter
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«Die Bilder sind noch nicht aufgehängt», sagt Ulrich Müller-Knapp bei der Aufforderung, sich für ein Foto neben die Bilder, die zum Aufhängen bereit stehen, zu stellen. Auch sonst ist das lichtdurchflutete Büro, mit Blick auf landwirtschaftliches Gebiet rund um das Verwaltungsgebäude der Klinik Sonnenhof, noch spärlich eingerichtet. Das grosse Büchergestell neben dem Pult bietet noch viel Platz für weitere Bücher.

Seit dem 1. Januar 2013 ist der 48jährige Ulrich Müller-Knapp Klinikleiter und Chefarzt des Kinder- und Jugendpsychiatrischen Zentrums Sonnenhof in Ganterschwil. Bereits seit 2006 arbeitete er da als Leitender Facharzt. «Fachlich und inhaltlich hat sich seit Anfang Jahr nicht viel verändert. Neu ist einfach, dass ich zusammen mit der Geschäftsleitung die ganze Verantwortung trage.»

Blickwinkel fürs Normale

Aufgewachsen ist Ulrich Müller-Knapp in Südhessen, in der Nähe von Frankfurt am Main. «Mein Vater war Flugingenieur bei der Lufthansa und meine Mutter Dolmetscherin.» Eine berufliche Versetzung seines Vaters war ausschlaggebend, dass die Familie für dreieinhalb Jahre nach Rio de Janeiro zog. Zurück in Deutschland, bezogen sie ihr Heim in der Nähe von Darmstadt. «Dort besuchte ich bis zum Abitur das Gymnasium», erzählt er. Sein Blick geht hinaus und sucht die Weite. Dort sei es auch das erste Mal gewesen, dass er in Berührung mit Jugendlichen aus einem Heilpädagogischen Heim gekommen sei. «Durch diese Begegnungen bekam das <Normale> einen anderen Blickwinkel.» Jugendliche aus dieser heilpädagogischen Einrichtung seien zusammen mit ihm in einer Jugendgruppe gewesen. «Noch heute habe ich Kontakt zu einem dieser damaligen Kollegen.» Nach dem Abitur ging Ulrich Müller-Knapp nach Frankfurt an die Universität um Medizin zu studieren. Während dieser Zeit wurde er für 18 Monate in den Zivildienst abberufen. «Den Dienst absolvierte ich in einer Chirurgischen Klinik.» Anschliessend hat er weiter studiert und sein Staatsexamen gemacht. Die ersten Erfahrungen in einer pädiatrischen Praxis (Kinderheilkunde) folgten. Später hat er in einem Neurologischen Zentrum für Kinder gearbeitet. Da hatte er auch den ersten Kontakt mit psychisch auffälligen Kindern. «Die Arbeit in dieser Klinik und meine Begegnungen als Jugendlicher, haben mich möglicherweise bei meinen Entscheidungen für diese Fachrichtung beeinflusst», sagt er. Ulrich Müller-Knapp entschloss sich, den Facharzt Titel für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie zu erlangen. In der Folge habe er mehrere Jahre in einer Klinik als Oberarzt gearbeitet. «Dort eignete ich mir Fachwissen und Erfahrungen in der Kaderführung an.»

Vom leitenden Arzt zum Chefarzt

2005 kam die Idee für eine Veränderung, dies aus verschiedenen Gründen. Auf der Suche nach einer neuen Herausforderung, ist er auf die Ausschreibung als Leitender Arzt in der Klinik Sonnenhof gestossen. Im Oktober 2006 trat er die Stelle in Ganterschwil an. «Am Anfang lebte ich mit meiner Frau noch in Deutschland und bin gependelt.» Inzwischen ist er mit seiner Frau – die beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) in St. Gallen arbeitet – nach Bühler umgezogen. «Ich fühle mich sehr wohl in dieser ländlichen Gegend.» Denn er wandere gerne und fahre im Winter Ski. Auch sei das musikalische und kulturelle Angebot in der näheren Umgebung gross. «St. Gallen und Bregenz sind ja so nah.»

Er habe sich der Klinik Sonnenhof mit Haut und Haaren verschrieben. Dies sei auch der Grund gewesen, dass er sich 2012 mit neun weiteren Mitbewerbern in den ordentlichen Bewerbungs-Ablauf für die Stelle des Klinikleiters und Chefarztes begeben habe. «Ich bin froh, dass die Stelle ordnungsgemäss ausgeschrieben wurde, so kam es zu einer fairen Wahl.»

Arbeit ist Entwicklungshilfe

Die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen sei grundsätzlich eine Entwicklungshilfe. Denn die krankhaften Symptome treten oft während kritischer Entwicklungsphasen, wie zum Beispiel der Adoleszenz (Übergangsphase von der Pubertät zum Erwachsensein), auf. «Unser übergeordnetes Therapieziel ist es meistens, den Kindern und Jugendlichen neben einer Reduktion der Symptome wieder Entwicklungs-Möglichkeiten aufzuzeigen.» Die Patienten seien unter ständiger Beobachtung der behandelnden Personen. «Um mögliche Veränderungen schnell zu erfassen und zu handeln», erklärt der Chefarzt. Er liebt seine Arbeit und zitiert seinen Vorgänger Robert Fisch. «Er sagte immer: <Das ist kein Beruf – es ist eine Berufung>. Denn es ist eine tägliche Auseinandersetzung mit seelischem Leid, schweren Schicksalsschlägen und viel Tragik.» Daher benötige diese Arbeit eine innere Bereitschaft und man müsse mit Herzblut bei der Sache sein. Voraussetzungen für diesen Beruf seien daher auch eine starke Sozialkompetenz und kommunikative Fähigkeiten. «Neben einem hohen Fachwissen, welches ein ständiges Hinterfragen der fallbezogenen Hypothese bedeutet, muss man auch sich selbst immer wieder kritisch hinterfragen und sich mit den blinden Flecken in seinem Wesen auseinandersetzen.» Um das zu bewerkstelligen, haben die Mitarbeiter eine Vielzahl regelmässiger Besprechungen im Team. Von Extern werden ihnen Supervisionen (Form der Beratung in psychosozialen Berufen) angeboten. Für den Klinikleiter ist es sehr wichtig, dass seine Mitarbeiter geregelte Abläufe vorfinden. «Daneben ist ein gesunder Ausgleich zur Arbeit notwendig.»

Transparenz in der Bevölkerung

Eines seiner Ziele ist es, die hohe Professionalität und die therapeutische Kultur der Klinik zu erhalten und weiter auszubauen. «Wir müssen immer weiter an unserem Fachwissen und der inneren Haltung arbeiten.» Dies geschehe durch Weiterbildung und therapeutischen Supervisionen der Mitarbeitenden. «Wichtig bei der ganzen Arbeit ist mir die Wertschätzung in diesen Prozessen, ob gegenüber Eltern, Mitarbeitenden oder den jungen Patienten.» Er betont, dass es ihm ein Anliegen sei, eine Öffnung gegenüber der Bevölkerung zu schaffen um Ängste abzubauen. «Es ist unumgänglich, dass wir die Kinder und Jugendlichen so früh wie möglich erfassen, um schwerwiegende Veränderungen zu verhindern.» Sein Blick wandert zum Bild das noch nicht aufgehängt ist. Es zeigt einen Wald mit aufsteigendem Nebel.