Selten ist man sich als Passagier eines Zuges der Arbeit des Lokomotivführers wirklich bewusst. Im Stillen arbeitet er an der Front im Führerstand und sorgt für die sichere Fahrt bis ans Ziel. Ob man jetzt in den Ausgang, in die Ferien oder zur Arbeit will.
Liska Meier
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Auf dem Uzner Bahnsteig schmettert eine Amsel ihr Abendlied. Es ist kurz nach 21.30 Uhr und bald nachtet es ein. Der «Chapfenberg» ist aufgerüstet, angemeldet, die Türen sind geschlossen und die Flirt-Triebwagenkomposition der Schweizerischen Südostbahn (SOB) verlässt Uznach. Im Führerstand des «Chapfenberg», so heisst der Zug, sitzt Andreas Hnatek. Seine Arbeit als Lokomotivführer der SOB hat um 16 Uhr mit der Tour des Voralpenexpress’ nach Luzern und zurück nach Rapperswil begonnen. Jetzt führt die Schicht ihn mit der S 4 zweimal unterirdisch durch den Berg – zuerst nach Wattwil und dann nach Brunnadern.
Hnatek gibt «Gas». Das heisst, er erhöht mit einem «Schalthebel» über den Stromrichter das Drehmoment der vier Fahrmotoren des Flirts. Dreimal ist ein Ticken zu hören, und pro «Tick» wird der Zug um fünf Stundenkilometer schneller. Die S 4 passiert Kaltbrunn, das Restaurant Rickentunnel kurz vor dem Eingangsportal und fährt mit ansteigender Geschwindigkeit in den Rickentunnel ein. «8600 Meter lang ist der Tunnel und schnurgerade», erklärt Andreas Hnatek. «Würde man hier bei Tag durchfahren, sähe man als kleinen, hellen Punkt das Ausgangsportal von Wattwil.» Die Wände sausen vorbei, das Schotterbett leuchtet im Scheinwerferlicht, und der Sicherheitshandlauf an der Wand vollführt leichte Berg- und Talbewegungen.
Während der kurzen Pause vor der Abfahrt aus Uznach erzählt der 56-jährige Toggenburger von seinen Schichten und dem fehlenden Schlafrhythmus. «Nicht in einem geregelten Rhythmus schlafen zu können, ist etwas vom Schwierigsten in meinem Beruf. Täglich ändert die Schicht in kleinen Schritten. Ein Lokomotivführer muss flexibel sein und dann schlafen, wenn es der Zeitplan erlaubt.» Also mitten am Tag, gegen Abend, am Vormittag. Grundsätzlich sei der Schichtplan für 13 Wochen aufgebaut. Es gibt Tagesschichten, die frühen Schichten, die um 5 Uhr beginnen oder die sehr späten Schichten, die um 1.30 Uhr enden. Eine kurze Schicht kann sechs Stunden dauern, die längste über zehn. Andreas Hnateks heutige Schicht weist zusätzliche Pausenzeiten auf. Weil die SOB-Strecke Neckertal-Brunnadern-Degersheim am betreffenden Tag ab 21.55 Uhr wegen Sanierungsarbeiten gesperrt und bereits in Brunnadern Endstation ist.
Herr Hnatek, der Beruf des Lokomotivführers setzt für Sie eine hohe Flexibilität und Konzentrationsfähigkeit voraus. Wie gelingt es Ihnen, die Waage zu halten?
«In meiner Freizeit betreibe ich unter anderem auch Kendo, eine Kampfsportart. Dies entspannt und fördert die Fähigkeit, sich lange konzentrieren zu können.»
Wie geht man mit der Einsamkeit im Führerstand um?
«Indem ich mich darauf freue, in den Pausen mit den anderen Lokführern einen Schwatz zu halten und in der Freizeit sowieso sehr aktiv und unter Leuten bin.»
Schichtarbeit hat Nachteile. Welche machen Mühe?
«Es kann Wochen dauern, bis ich mit Freunden oder Bekannten einen gemeinsamen Termin gefunden habe, um eine Berg- oder Velotour zu unternehmen. Weil selten jemand zur gleichen Zeit frei hat. Ist dann das Wetter schlecht, kann es schon zermürbend sein, wenn der Ausflug verschoben werden muss.»
In Ihrem Job sind Sie verantwortlich für die Sicherheit der Fahrgäste. Wie trägt man diese hohe Verantwortung?
«Wenn ich bei meiner Arbeit im Führerstand das Beste gebe, dann weiss ich, dass es den Passagieren gut geht und sie mit mir sicher ans Ziel kommen. So nehme ich meine Verantwortung wahr.»
Warum wollten Sie Lokomotivführer werden?
«Ich habe schon viel gemacht. Ich lernte Gärtner, arbeitete als Holzer, Älpler, Disponent, Vertreter, Schreiner oder Baumaschinenführer und war bei den Bahnen schon im Rangierwesen angestellt. Der Beruf des Lokführers war die passende, neue Herausforderung.»
Der Flirt verlässt den Rickentunnel, passiert ein Vorsignal zum Hauptsignal, drosselt das Tempo und fährt im Bahnhof Wattwil ein. «Das Vorsignal zeigt mir in Bremsdistanz an, was das Hauptsignal zeigt», erklärt Hnatek. «Es dient der Sicherheit. Denn falls dichter Nebel herrscht, können wir gegebenenfalls das Hauptsignal nicht früh genug erkennen, wissen aber vom Vorsignal, was es zeigt.» Ein Lokomotivführer ist auf seiner Tour umgeben von Schildern und Signalen, die alle die gleiche Sprache sprechen und im ganzen Land auf dem Schienennetz einheitlich sind. Meist links der Strecke platziert. Es geht um Höchst- und Niedriggeschwindigkeiten, um Freigaben oder um Signale, die anzeigen, wo der Zug entlang des Perrons zu halten hat. Gesteuert wird das gesamte Schienennetz der SOB von der Betriebszentrale in Herisau. Auf Monitoren wird jedes Gleis, jede Weiche und jedes Fahrzeug überwacht. Der diensthabende Disponent ist des Lokomotivführers direkter Ansprechpartner, auch im Falle von Hnateks Komposition.
Am Bahnhof Wattwil ist nicht viel los. Das Spannendste läuft im Rückspiegel. Eine kleine Gruppe von Passagieren steigt ein. Hnatek überprüft den Fahrplan, wartet ein paar Sekunden, der Willkommensgruss der SOB ertönt aus dem Lautsprecher und die S 4 fährt los. Passiert Lichtensteig und fährt in den Wasserfluhtunnel ein. 3556 Meter lang ist dieser und weist eine leichte Krümmung auf.
Auf der anderen Seite des Tunnels ist es mucksmäuschenstill. Die Bahnsteige in Brunnadern sind leer. Das Bahnhofsgebäude existiert nicht mehr, es wurde im Frühling abgebrochen. Dunkel ist die Nacht. Zum Glück ist Sommer und die Luft so lau und samtig, so dass die Trostlosigkeit des leeren Areals nicht allzu deprimierend wirkt. Hnatek verlässt den Führerstand und geht durch den Zug. Erinnert sitzen gebliebene Passagiere daran, dass in Brunnadern Endstation ist und sie auf den Ersatzbus umsteigen sollten und liest beim Rückweg da und dort Liegengebliebenes auf. Auch das gehört zu seinem Beruf. Ebenfalls leer verlässt die Komposition 20 Minuten später wieder die Perrons in Brunnadern. Diesmal als Voralpenexpress. Hnatek kontrolliert, ob er in Lichtensteig als VAE wirklich keinen Halt einschalten muss und zieht den Zug weiter nach Wattwil.
Im Führerstand piepst es. Das tut es in regelmässigen Abständen schon auf der ganzen Tour. Es ist das Signal der Sicherheitssteuerung. Darauf muss der Lokführer mit einer Handlung reagieren und beispielsweise den Schalthebel antippen. Macht er das nicht, so leitet das System nach kurzer Zeit eine Schnellbremsung ein und stoppt den Zug.
Nach dem offiziellen Halt in Wattwil fährt der Zug wieder fast leer durch den Rickentunnel südwärts. Hält in Uznach und Rapperswil. Fährt kurz vor 23 Uhr über den Seedamm nach Pfäffikon. Der Zürichsee liegt still und ruhig im Dunkel der Nacht links und rechts der Schienen. Die Fahrt ist schon fast mystisch. In Pfäffikon ist für die Passagiere erneut Endstation. Hnatek muss eine Pause einschalten und wischt in dieser Zeit mit einem Putzlappen über das Führerpult. «Ein paar Arbeiten erledigt für meinen Nachfolger», sagt er und lacht.
Noch vor Mitternacht ruft der Fahrdienstleiter an. Er könne sich an den Fahrplan halten, beschied dieser dem Lokführer. Denn der Bus, den es in Pfäffikon noch abzuwarten galt, habe keine Passagiere befördert. Es will auch keiner in den Zug einsteigen. Andreas Hnatek rüstet die Kompostion auf, meldet den Zug an, tippt an den Schalthebel und fährt los. Die Nummer 9487 ist der letzte Zug in dieser Nacht über den Damm.