Kürzlich war Speicher erneut Schauplatz einer ambulanten Lesung. Nach der Premiere im letzten Jahr las Lukas Krejci abermals einen Text von Ralf Bruggmann.
Berit Klinik Speicher, kurz nach 19 Uhr: Über 60 Gäste haben in der Tiefgarage auf Klappstühlen Platz genommen, als ein leicht zerstreuter Mann, Lukas Krejci, am Publikum vorbeisteuert, einen Briefumschlag in der Hand. Erst im zweiten Schritt nimmt er das Publikum wahr, nimmt Kontakt auf und erzählt aus freien Stücken von seinem Auftrag, einen Brief an eine gewisse Elisa zu überbringen, die derzeit im Hotel Höhenblick wohnen soll. Eigentlich sei er nachdrücklich gebeten worden, den Brief nicht zu öffnen. Als Vorleser aber könne er nicht aus seiner Haut. Und macht den Brief eines Mannes namens Ramon deshalb öffentlich, einen verzweifelten Rettungsversuch einer gescheiterten Beziehung, akustisch konkurrenziert durch Abendverkehr in der Parkgarage.
In einer schweigenden Prozession machen sich die Zaungäste der Geschichte von Ralf Bruggmann auf in Richtung Hotel Höhenblick. Auf halbem Weg machen sie Halt auf dem Parkplatz Vögelinsegg, wo der Vorleser aus einer Ausgabe der «Appenzeller Zeitung» zitiert. Ein merkwürdiges Ereignis habe am Sonntagabend für Aufsehen gesorgt und die Polizei auf den Platz gerufen. Ein Mann habe sich mit einem Klappstuhl an ein parkiertes Auto gekettet, hiess es unter der Überschrift «Skurriler Zwischenfall in Speicher». Die Identität des Verhafteten und dessen Beweggründe seien Gegenstand laufender Untersuchungen.
Der Vorleser scheint zusehends mitgenommen, sichtlich verunsichert. Seine Bitte ans Publikum, ihn zum Hotel Höhenblick zu begleiten, klingt schon fast wie ein Hilferuf. Beim Hotel Höhenblick sitzt eine Frau an einem Tisch auf der hinteren Terrasse. Nach einem seltsamen Moment des Schweigens hält die Frau, bei der es sich offensichtlich um Elisa handelt, dem unbekannten Kurier wortlos ihr Tagebuch hin. Nach kurzem Zögern hängt der Vorleser am Terrassengeländer wie an einer Reling und liest aus dem aktuellsten Eintrag vor. Elisa schüttet ihr Herz aus, sinniert über das Wesen der Liebe: «Manchmal frage ich mich, ob Liebe von Natur aus ein Verfallsdatum hat. Und wir uns irgendwann nur noch von überschüssigen Gefühlen aus vergangenen Zeiten ernähren.»
«Draussen lauert der Herbst, es wird dunkler, es wird kühler.» Gibt es Hoffnung für Ramon und Elisa, fragt sich das Publikum. «Die Antwort, sie ist eigentlich ganz einfach. Aber das macht es nicht leichter», heisst es am Ende des Tagebucheintrags. Der Vorleser übergibt Elisa Tagebuch und Briefumschlag, das Publikum nimmt das offene Ende mit auf den Weg in die Sambuco-Bar beim Waisenhaus.
Bei einem Glas Wein tauschen sich Protagonisten und Publikum aus, erfahren Hintergründe und Fussnoten zur Geschichte der einzelnen Stationen. Der Abend endet mit dem Auftritt einer italienischen Familie aus Udine, die zwecks Augenbehandlung in der Klinik Bella Vista in Speicher Station macht. Ganz reale Gäste, die durchs Wöschhüsli-fenster grüssen – ein charmanter Schlusspunkt.
Mark Riklin
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