«Operation als letzte Option»

Neurochirurg Ulrich Kraus behandelt für den Spitalverbund Appenzell Ausserrhoden Patienten mit Rückenschmerzen. 95 Prozent dieser Beschwerden sind genetisch bedingt. Zur Vorbeugung hilft nur eines: Bewegung, Bewegung, Bewegung.

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Herr Kraus, im Volksmund spricht man von Hexenschuss oder vom Kreuz mit dem Kreuz. Wie kommt es angesichts von Rückenschmerzen zu solchen Formulierungen?

Ulrich Kraus: «Sakrale Kunst um die Bandscheibe», sagte mein Oberarzt jeweils. Das Kreuz ist ein zentrales Organ. Es ist auch ein Ausdruck von psychischen Belastungen – man spricht davon, «das Kreuz zu tragen».

Die meisten Erwachsenen kennen das Gefühl des schmerzenden Rückens. Weshalb sind so viele Menschen davon betroffen?

Kraus: Eine Ursache ist die steigende Lebenserwartung der Menschen. Der Rücken wird garantiert irgendwann ein Thema, wenn jemand alt genug wird. Zudem bewegen wir uns zu wenig. Die Genetik spielt eine entscheidende Rolle: Alle weissen Mitteleuropäer haben schlechte Bandscheiben. 95 Prozent der Beschwerden sind genetisch bedingt, wobei es auf das kollagene Bindegewebe der Bandscheiben ankommt. Gehen die Bandscheiben kaputt, ist der Rückenschaden da.

Was kann der Patient in einem solchen Fall machen?

Kraus: Bei kaputten Bandscheiben ist es wichtig, die Muskulatur maximal zu stärken. Vielen Patienten gebe ich den Lebensrat: «Die nächsten Jahrzehnte müssen Sie trainieren. Dann sind Sie zwar nicht beschwerdefrei, aber die Situation bessert sich.» Das braucht viel Disziplin sowie Verständnis für den Rücken und die eigene Krankheit. Der Patient trägt durch sein Verhalten viel dazu bei, die Situation zu verbessern.

Welche nicht genetisch bedingten Ursachen können hinter Rückenschmerzen stecken?

Kraus: Es sind Bewegungsmangel, Übergewicht, Rauchen, Zuckerkrankheit und Unfälle, die für fünf Prozent der Rückenleiden verantwortlich sind. Dazu kommen Depressionen, familiäre Probleme oder Stress.

Gibt es Personengruppen, die besonders anfällig für Rückenprobleme sind?

Kraus: Übergewichtige mit Bewegungsmangel, Raucher und Zuckerkranke.

Der Beruf spielt keine Rolle?

Kraus: Eher nicht. Es gibt Bauarbeiter mit gesunden Wirbelsäulen, und es gibt Leute, die spitzen Bleistifte und haben mit 30 Jahren einen kaputten Rücken. Der Beruf hat eher postoperativen Einfluss. Dann kann es schwierig sein, auf dem Bau zu arbeiten.

Wie gehen Sie bei der Untersuchung eines Patienten vor?

Kraus: Als erstes höre ich, was er zu sagen hat. Oft kann ich danach bereits eine Diagnose stellen. Ich untersuche stets, ob er Lähmungen hat, schaue ob Hüftprobleme oder Durchblutungsstörungen vorhanden sind. Weiter studiere ich die Bilder. Dann gibt es drei Fragestellungen: Werden die Beschwerden durch die Bilder erklärt? Ist das, was der Patient hat, gefährlich, wenn man nichts unternimmt? Kann ich ihm helfen? Und wenn ja, wie?

In welchem Fall spricht man von einem kranken Rücken?

Kraus: Wenn der Patient Beschwerden hat, die im besten Fall durch Röntgenbilder oder Aufnahmen eines MRI belegt werden.

Welches ist der häufigste Befund?

Kraus: In meinen ersten Berufsjahren war der Bandscheibenvorfall das häufigste Krankheitsbild. Bandscheiben operiere ich kaum noch. Heute ist die abnutzungsbedingte Verengung des Wirbelkanals häufigste Ursache für eine Rückenoperation. Betroffen sind meist über 70-Jährige.

Weshalb ist es oft schwierig, die genaue Ursache für Rückenschmerzen zu eruieren?

Kraus: Die Psyche und die Lebensumstände haben einen grossen Einfluss. Nur in der Hälfte der Fälle ist der Befund aufgrund der Bilder eindeutig.

Es gibt akute, subakute und chronische Rückenschmerzen. Was ist der Unterschied, und worin unterscheidet sich die Behandlung?

Kraus: Akute Schmerzen dauern bis zu sechs Wochen. 90 Prozent der Schmerzen sind akut. Von subakuten Schmerzen spricht man bei einer Dauer von sechs Wochen bis vier

Monaten. Alles, was länger dauert, ist chronisch. Dabei spielt es keine Rolle, wie stark die Schmerzen sind.

Akute, subakute, chronische Schmerzen: Welche Behandlungsansätze gibt es?

Kraus: Bei akuten Beschwerden kann man Schmerzmittel oder Kortison geben, der Patient wird entlastet, so dass er nicht arbeiten muss, auch Physiotherapie kommt in Frage.

In chronischen Fällen ist es schwierig: Was lange geschmerzt hat, dauert lange bei der Behandlung. Als Arzt kann ich den Patienten in seinen Schmerzen begleiten, oder es kommt zur Operation, mit welcher Teilaspekte verbessert werden können. 30 Jahre Rückenschmerzen beendet man nicht mit einer Operation.

Welche Therapieformen gibt es?

Kraus: Immens viele konservative Methoden: von Akupunktur und Atlaslogie über Chiropraktik, Osteopathie zu Physiotherapie: Das kann man alles ausschöpfen, bevor man zum Neurochirurgen geht. Ich behandle mittels Infiltration, spritze dabei dem Patienten ein Schmerzmittel unter Beizug von Röntgen- oder CT-Bildern – oder ich operiere. Bei der Operation gibt es freilegende Massnahmen, bei denen die Nerven mehr Platz erhalten. Dann gibt es die Möglichkeit, die Wirbelsäule dynamisch zu stabilisieren. Und es gibt Systeme, die mit Schrauben und Metallstangen die Wirbel versteifen. Methoden, welche die Bewegung erhalten, ermöglicht die Prothetik.

Was tun Sie bei Schmerzen mit psychosomatischem Hintergrund?

Kraus: Einen Psychosomatiker und einen Schmerztherapeuten hinzuziehen, denn dann braucht es eine komplexe Behandlungsform. Das gibt es in der Region nur am Kantonsspital St. Gallen.

Wann ist eine Operation der Wirbelsäule unumgänglich?

Kraus: Es gibt drei Gründe: unerträglicher Schmerz; eine funktionelle Lähmung, das heisst, der Patient kann nicht mehr gegen die Schwerkraft arbeiten; der Patient kann Wasser und Stuhlgang nicht mehr kontrollieren. Die Operation ist stets die letzte Behandlungsoption.

Welche Möglichkeiten gibt es, Rückenproblemen vorzubeugen?

Kraus: Bewegen, bewegen, bewegen. Ideal sind Schwimmen, Velofahren und Fitnesstraining, und zwar mindestens dreimal 15 Minuten pro Woche. Problematisch sind Sportarten mit Rotation, Beugen und Stop-and-go. Wichtig ist ein gesunder Lebenswandel.

Sind Büros und Arbeitsplätze heute «rückenfeindlich» eingerichtet?

Kraus: Das hängt davon ab, was man daraus macht. Wichtig ist, dass man regelmässig aufsteht und einige Schritte geht.

Interview: Mea Mc Ghee