Kommentar
Offener Brief an die Ausserrhoder Regierung: Zeigen Sie Mut!

In Appenzell Ausserrhoden beginnt am 1. Juni die neue Legislaturperiode. Dem Kanton täte es gut, wenn die Politik mehr als nur das Pflichtprogramm abspulen würde.

David Scarano
Drucken
Das neue offizielle Regierungsratsfoto: Ratschreiber Roger Nobs, Yves Noël Balmer, Paul Signer, Landammann Alfred Stricker, Dölf Biasotto und Hansueli Reutegger . (Bild: PD)

Das neue offizielle Regierungsratsfoto: Ratschreiber Roger Nobs, Yves Noël Balmer, Paul Signer, Landammann Alfred Stricker, Dölf Biasotto und Hansueli Reutegger . (Bild: PD)

David Scarano, Redaktionsleiter Appenzeller Zeitung

David Scarano, Redaktionsleiter Appenzeller Zeitung

Geschätzte Mitglieder der Ausserrhoder Regierung, eine spannende Zeit steht Ihnen bevor. Am 1. Juni bricht in der Ausserrhoder Politik eine neue Ära an. Sie haben gestern zum Ende der Legislaturperiode auf einen Schlag zwei Ihrer Leitwölfe verloren. Köbi Frei und Matthias Weishaupt sind nicht mehr Teil der Regierung. Dieses Fachwissen und diese Erfahrung werden Ihnen fehlen. So schnell werden Sie diese auch nicht ersetzen können. Insgesamt 29 Amtsjahre haben Ihre ehemaligen Kollegen gemeinsam auf dem Buckel – mehr als doppelt so viel wie das gesamte neue Quintett.

Allerdings bringt der Abschied auch Vorteile: Sie können in neuer Besetzung und unbeschwerter an die vielen Herausforderungen im Kanton herangehen. Matthias Weishaupt und Köbi Frei mussten, berechtigt oder unberechtigt, den Kopf für die Turbulenzen im Spitalverbund und für die schlechte Finanzsituation des Kantons hinhalten. Der SP- sowie der SVP-Politiker stehen stellvertretend für die zwei wohl prägendsten Ereignisse der vergangenen Legislatur.

Der Blick auf diese Schwierigkeiten zeigt, dass Sie als Regierungsbehörde zuletzt vorwiegend mit der Vergangenheitsbewältigung statt mit der Zukunftsgestaltung beschäftigt waren. Wir haben an dieser Stelle bereits geschrieben, dass wir im Kanton einen Hauch Dynamik vermissen. So haben Sie ihr selbsternanntes Hauptziel, die Bevölkerungszahl zu erhöhen, bislang nicht erreicht. Sie weisen unsere Kritik jedoch zurück, das ist natürlich Ihr gutes Recht. Sie kontern, sie hätten unter anderem mit der Staatsleitungsreform die Basis für eine gute Zukunft gelegt – und das wünschen wir uns alle. Das haben Ausserrhoden und seine Bewohner auch verdient.

Ein Umbruch eröffnet bekanntlich Möglichkeiten. In den kommenden vier Jahren können Sie Akzente setzen. Wo ist dies besser möglich als bei der sich in Arbeit befindenden Totalrevision der Kantonsverfassung? Sie ist Ihre Chance. Zeigen Sie Mut und beweisen Sie, dass die Ausserrhoder Politik mehr kann, als nur das Pflichtprogramm abspulen. Seien Sie für einmal innovativ.

Stimmrechtsalter 16, Proporz und Hauptort

Fast die ganze Schweiz diskutiert das Stimmrechtsalter 16. Warum nicht den jungen Menschen im Kanton die Chance geben, die Zukunft mitzugestalten?

Viele Ausserrhoder Gemeinden ächzen unter der Last der Alltagsbewältigung. Warum nicht Prozesse in Gang setzen, die mittelfristig zu vernünftigen Gemeindegrössen führen?

Die Parteien und Gemeinden kämpfen mit Nachwuchsproblemen. Warum nicht die politische Karte neu zeichnen und mit der Einführung des faireren Proporzwahlsystems auf dem ganzen Kantonsgebiet für Schwung sorgen?

In der Verfassung ist nach wie
vor kein Hauptort festgeschrieben. Warum nicht die Realität akzeptieren und sich endlich zu Herisau bekennen, der mit Abstand grössten Gemeinde im Kanton? Ausserrhoden braucht starke Zentren. Dies wäre ein erster Schritt dazu.

Familien nicht vergessen!

Auch darüber hinaus haben Sie grossen Gestaltungsspielraum. Die Revision des Energiegesetzes steht in diesem Jahr an. Beweisen Sie, dass Ihnen die Appenzeller Natur und Umwelt tatsächlich am Herzen liegen. Warum setzen Sie sich nicht für eine nachhaltigere Energienutzung ein und fördern vermehrt die erneuerbaren Energieformen?

Und vergessen Sie die Familien nicht. Appenzell Ausserrhoden ist vor allem ein Wohnkanton. Eine rein auf Unternehmen ausgerichtete Tiefsteuerpolitik reicht nicht, wie die Vergangenheit gezeigt hat. Warum nicht für einmal schweizweit führend sein in der Familien- und Bildungspolitik mit beispielsweise einer flächendeckenden Einführung von Tagesstrukturen?

Wo bleiben die Frauen?

Und zuletzt noch dies: Als reines Männergremium wissen Sie, dass Ihnen eigentlich mindestens zwei Sitze gar nicht zustehen. Die Frauen fehlen, die Hälfte der Bevölkerung ist somit nicht vertreten. Das heisst nun aber nicht, dass wir Ihnen zu Beginn der Legislatur gleich Rücktritte nahelegen. Aber nehmen Sie das Thema ernst und kümmern Sie sich um bessere Rahmenbedingungen.

Liebe Ausserrhoder Regierungsräte, geniessen Sie Ihr freies Wochenende. Ab Montag geht’s richtig los. Die Bevölkerung zählt auf Sie.