HISTORISCH: Am Tisch der armen Leute

Wer von der Wattwiler Bahnhofstrasse zum Bräkerplatz flaniert, stösst auf einen Tisch mit runden Vertiefungen. Er diente als Inspirationsquelle für die Ausstellungsgestaltung im Toggenburger Museum Lichtensteig.

Christelle Wick
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Diesen Tisch mit den runden Vertiefungen hat der Aktionskünstler Roman Signer geschaffen. (Bild: PD)

Diesen Tisch mit den runden Vertiefungen hat der Aktionskünstler Roman Signer geschaffen. (Bild: PD)

Nicht für alle erklärt sich Kunst von selbst. So hat sich schon manch einer gefragt, was der Tisch auf dem Bräkerplatz soll, zumal er sich nicht einmal für ein Picknick eignet. Der geneigte Betrachter wird aber schnell gemerkt haben, dass der ansonsten auf Explosionen aller Art spezialisierte Aktionskünstler Roman Signer hier 2005 ein stilles Kunstwerk geschaffen hat. Die nebenan stehende Büste von Ulrich Bräker hilft auf die Sprünge: Es handelt sich um einen Armentisch. Not erlebte der arme Mann zur Genüge.

In vielen Haushalten stehen heute noch prächtig bemalte Toggenburger Schränke. Vergebens sucht man einen Armentisch. Denn wer mangels Geld kein Geschirr hatte, griff auf ein einfaches Mittel zurück. In die Tischplatte wurden runde Vertiefungen geschnitzt, aus denen das Habermus direkt herausgelöffelt werden konnte. Habermus konnten sich Arme während der Regenjahre 1816/1817 nicht mehr leisten. So schreibt der reformierte Pfarrer und Gelehrte Peter Scheitlin: «Die Mutter schöpfte den drei Kindern aus einem Becken gesottenes Gras auf den Tisch heraus. Das war ihr Abendessen! Stumpfsinnig sah die Mutter zu, die Buben aber assen die nassen, rauchenden Kräuter, die ihnen auf den blanken Tisch vorgeschüttet wurden, ohne Löffel, ohne Teller, nur mit den Händen, ganz bedachtlos.» Blanke Not. Und wenn es heute regnet und sich die Vertiefungen im Armentisch am Bräkerplatz mit Tropfen füllen und im Wasser die Abfallpapierchen schwimmen, dann erinnert dies leicht widerlich an die mageren Bestandteile einer wässrigen Armensuppe.

Den Löffel abgeben

Der Löffel ist Lebenssymbol. Wer stirbt, gibt den Löffel ab. Die Redewendung stammt aus der frühen Neuzeit, als arme Leute mit einem persönlichen Löffel aus einer gemeinsamen Schüssel ­assen. Noch um 1900 soll der wortkarge Bergbauer Greben Goris vom Schlatt (Neu St. Johann) und Vater von 15 Kindern bei der Ankündigung eines Kindes jeweils nur gesagt haben: «Tuesch halt en Löffel meh he­rälegga», und die Sache sei für ihn erledigt gewesen, so überliefert es jedenfalls die Autorin Frieda Hartmann.

Das Toggenburger Museum in Lichtensteig zeigt noch bis 30. Oktober die Sonderausstellung «Z’Esse git’s nur gsottes Gräs: Ein Toggenburger Junge erzählt von der letzten Hungersnot 1816/1817». www.toggenburgermuseum.ch