Rund 170 Namen sind in der Literatursammlung Appenzeller Anthologie zu finden. Unter bekannten Gesichtern sind einige Exoten, deren Appenzeller Bezug auf den ersten Blick nicht zu erahnen ist.
Einen stattlichen Teil eines Bücherregals nehmen sie inzwischen auch in einer wenig ambitiösen Bibliothek ein: gewichtige umfangreiche, formatsprengend-sperrige Appenzellika mit dem Anspruch, einen wichtigen Aspekt hiesiger Kultur und Lebensweise sammelnd, ordnend, «gültig» und mit einer gewissen Vollständigkeit oder doch schlüssigen Auswahlkriterien aufzubereiten und der Leserschaft anmächelig darzubieten. Bereits etwas ältere Werke sind dabei, wie etwa «Frauenleben Appenzell» oder «Appenzeller Sprachbuch», in den letzten Jahren erschienene, wie «Zeitzeugnisse» (zum Kantonsjubiläum) oder «Appenzeller Möbelmalerei», unlängst überarbeitete frühere Auflagen wie «Die Bauernhäuser beider Appenzell» oder «Der Alpstein» und die allerjüngsten wie «Appenzeller Welten» oder «Appenzeller Anthologie». Das sind alles schöne Weihnachtsgeschenke, auf dem eigenen Büchergestell in der guten Stube machen sie sich ausgezeichnet und geben einen Eindruck über den, der da haust, über seine Kulturbeflissenheit und seine Heimatliebe.
Bloss, wer braucht das denn nun wirklich, wer liest auch über das Blättern hinaus in den prächtigen und mitunter relativ kostspieligen Bänden? Redaktorin Jolanda Spengler hat die schon fast ketzerische Frage Rainer Stöckli, der «Seele» der eben auf den Markt gekommenen «Anthologie» mit literarischen Texten, im «Appenzeller Magazin» keck gestellt. Stöckli antwortet: «‹Brauchen› ist für Literatur ein schwieriges Wort. Schöne Literatur ist ein Kulturgut, das wir nicht wie Brot und Medikamente brauchen. Umso wichtiger ist es, sie zu sichten und zu ordnen, so dass möglichst viele Menschen (...) zu erreichen sind.» Ähnlich würden wohl die Autoren oder Herausgeber der anderen erwähnten Werke argumentieren. Und Recht haben sie! Die Frage ist wirklich obsolet. Man braucht – auch wenn man es gewohnt ist – nicht immer von etwas sofort oder wenigstens künftig direkten «Nutzen» zu ziehen. Es ist wichtig, dass es Leute und Institutionen gibt, die sich bewusst sind, dass es gilt, Dokumentarisches aus der Zeit festzuhalten und in die Zukunft zu retten, auf welchem Gebiet auch immer. Die sich bewusst sind, dass es gilt, bewahrend und erinnernd zu wirken, etwas zum «Gedächtnis» beizutragen, auch auf unmodernem physischen Weg, «dauerhaft, druck- und dingfest», wie Rainer Stöckli sagt.
Zurück zur Anthologie unter dem Titel «Ich wäre überall und nirgends», einem trefflichen Zitat des leider früh aus dem Leben geschiedenen Schriftstellers Peter Morger, dessen mechanische Schreibmaschine aus dem Nachlass das Cover ziert. Zum Inhalt: Es ist gemäss der Definition des griechischen Begriffs Anthologie eine «Blütenlese» von Texten aus der Feder von gegen 200 Autorinnen und Autoren seit dem Jahre 1900 bis in die allerjüngste Gegenwart. Es sind Auszüge aus Romanen, Gedichten, Erinnerungen, aus Texten mit sozialgeschichtlichen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen Stellungnahmen, Reiseberichten und und und. Darunter ist recht viel Mundart (wohl mehr als in anderen Landesgegenden zu finden wäre), dagegen – bewusst – eher wenig zum Brauchtum, mit dem das Appenzellerland gegen aussen sonst so dominant und klischeehaft identifiziert wird.
Ausgewählt hat die Texte im Auftrag der Ausserrhodischen Kulturstiftung ein eigentliches «Kompetenzzentrum» des appenzellischen Literaturbetriebs um Rainer Stöckli, den Germanisten, früheren Kantonsschullehrer und Herausgeber zahlreicher Sammlungen, den man füglich den hiesigen «Literaturpapst» nennen darf, vor allem auch was die Lyrik betrifft. Ihm zur Seite stand vorab der langjährige Kulturredaktor des St. Galler Tagblatts, Peter Surber, der heute massgeblich die Redaktion des Kulturmagazins «Saiten» betreut. Sein erhellendes Vorwort zur Anthologie ist allein schon lesenswert. Mit der Literaturkritikerin und -vermittlerin Eva Bachmann und dem «praktizierenden» Schriftsteller und Musiker Peter Weber («Der Wettermacher») hat man ebenfalls viel Kompetenz für ein solches Jahrhundertwerk mit eingebunden. Schliesslich runden die beiden kantonalen Bibliotheksfrauen Heidi Eisenhut und Doris Überschlag, die aus einem anderen Blickwinkel natürlich einen grossem Überblick über die Szene haben, das Herausgebersextett ab.
Und wer hat es denn nun in dieses grosse Werk geschafft, wer wurde für würdig befunden, einen Text zu liefern? Es wäre wohl interessant, ein leeres Blatt Papier zu nehmen und einfach mal so aufzuschreiben, wer da in Frage käme. Vielleicht ein Dutzend Namen kämen einem da wohl spontan in den Sinn: natürlich Robert Walser, Ludwig Hohl, Werner Bucher oder der genannte Peter Morger, dann etwa mit unterschiedlichen Qualitäten Julius Ammann, Peter Eggenberger, vielleicht der Jungstar Dorothea Elmiger, der Lyriker und Brosmete-Schreiber Paul Gisi, Heinrich Kuhn, Helen Meier, der stille Werner Lutz, der Witzesammler Ruedi Rohner, Georg Thürer oder Walter Züst. Von ihnen allen sind selbstredend Texte vorhanden. Aber dann kommen da noch gut 170 Namen, von denen viele wohl überraschen und die zeigen, wie weit die Herausgeber den Bogen geweitet haben, auch Auswärtige «in einem spendablen Verständnis einer literarischen Geografie eingemeindet» haben, wie es Peter Surber im Vorwort formuliert. Wer etwa würde Dejan Suvajac, Nikofôros Vrettâkos, Amor Ben Hamida oder grosse Literaturnamen wie Ruth Schweikart, Martin Walser, Niklaus Meienberg, Ephraim Kishon, Franz Hohler, Hermann Hesse oder Friedrich Glauser auf Anhieb in einer Appenzeller Sammlung suchen? Vertreten sind auch ein Alt-Bundesrat (Hans Rudolf Merz, allerdings nur mit einem Kapitelmotto) und (gleich mehrfach) ein amtierender Landammann (Roland Inauen).
Natürlich ist die Auswahl angreifbar. Natürlich könnte man debattieren, wer warum und warum wer nicht. Das wissen die Herausgeber. Nur haben sie ein solches Kompetenzpotenzial, dass sie entsprechender Kritik gelassen entgegenblicken und sie zweifellos auch kontern können. Unsereiner aus der Journalistenzunft wagt sich da ohnehin nicht einzumischen, auch wenn man einigen Texten von Berufskollegen hie und da (bzw. eher selten) durchaus literarischen Wert beizumessen gewillt ist. Man freut sich über so viel Lesestoff und so viele neue Einblicke in das, was im Appenzellerland geschrieben wurde und geschrieben wird. Viel dazu beitragen für gegenwärtige Generationen auch hiesige selbständige Verlage, die offen sind und die entsprechenden Möglichkeiten bieten, die es anderswo wohl kaum gäbe. Und – nicht zu vergessen – eine zumindest in den letzten Jahren kluge und initiative Kulturpolitik in den beiden Kantonen, die fruchtbaren Boden bietet.