Räss’ Fassade fehlt ein roter Blickfang. Der Tatbestand lautet wie folgt: Eine Fahne mit weissem Kreuz auf rotem Grund wurde aus der Mitte ihrer grünen und gelben Flaggennachbarn entrissen. Es ist schwer nachvollziehbar, wieso man so etwas tut. Und das auch noch nach dem Nationalfeiertag. Vorher hätte es schon mehr Sinn gemacht. Dennoch macht es, ehrlich gesagt, schon Spass, sich Motive für die dreiste Nummer auszudenken.
Stellen Sie sich doch mal das Dilemma vor, wenn der unbekannten Täterschaft einfach ein eigenes Exemplar gefehlt hat? Heitere Fahne! Das ist doch sicher jedem Bünzli ein Gräuel. Wer feiert schon gerne ohne? Wahrscheinlich nur die, die gar nicht feiern.
Die Tat nach dem 1. August zu begehen, könnte aber durchaus auch Sinn machen. Denn wer möchte nach diesem Diebstahl inflagranti dabei erwischt werden, während er oder sie das beeindruckend grosse Exemplar montiert. So eine Schweizer Fahne fällt dann schon noch auf, im Garten oder am Haus. Dann, wenn vorher keine da war. Wenn man das gute Stück samt rund zwei Meter langem Aluminiumgestänge allerdings erst ein Jahr später als Dekoration verwendet, ist vielleicht schon etwas Gras über die Sache gewachsen. Allerdings hätte man dann doch auch gleich die Grüne mitnehmen können. Die Gelbe wäre aber wohl zu auffällig gewesen und die Tat womöglich sehr rasch aufgeflogen. Denn die gelbe sollte man nur in der Gemeinde hissen, deren Wappen sie trägt. Und überhaupt: Wer hat denn ein Auto zur Verfügung, welches es zulässt, eine Fahne – oder gar zwei – solchen Ausmasses zu transportieren?
Noch kann man nur Vermutungen anstellen, wo sich die Fahne zurzeit aufhält. Beweise fehlen gänzlich. Fingerabdrücke wurden keine gefunden. Doch über den Tathergang wurde durchaus schon spekuliert. Ins Auge stach dem Ex-Besitzer eines: Auf dem Briefkasten fehlte nach der Entwendung der Fahne das Blumenkistli. Es wurde nicht mitgestohlen – Gott sei Dank – aber es stand am Boden. Ungewöhnlich, aber: der Briefkasten bot somit eine gäbige Aufstiegshilfe zum Vordach. Werkzeug mussten die Räuber aber dabei gehabt haben. War die Tat also schon im Voraus geplant? Oder waren die Schrauben noch locker, vom letzten Sturm?
Möglicherweise hat die besagte Fahne es ja bis auf die Schwägalp geschafft. Zum Mitschwenken, als das Schwägalp-Schwinget war. Dieses fand nämlich just an dem Wochenende statt, als das Verschwinden des Tatgegenstands festgestellt wurde. Weil man 20 Tage nach dem 1. August keiner kleineren Version mehr habhaft werden konnte. Ausverkauft waren die kleinen Fähnchen! Nur nicht die an Räss’ Fassade.
Der Besitzer Walter Räss wäre froh, wenn die Fahne wieder auftauchen würde: «Am besten wäre es, wenn sie einfach eines Morgens da läge.» Aufhängen tut er sie dann selber.