«In seiner Eröffnungsrede als amtsältestes Mitglied des Kantonsrates hat Kantonsrat Peter Meier im Juni Folgendes gesagt: <Auffallend sind in unseren Voten die methodischen und rhetorischen Feinheiten, welche oft eher unprofessionell daherkommen, angefangen bei den diversen Varianten von
«In seiner Eröffnungsrede als amtsältestes Mitglied des Kantonsrates hat Kantonsrat Peter Meier im Juni Folgendes gesagt: <Auffallend sind in unseren Voten die methodischen und rhetorischen Feinheiten, welche oft eher unprofessionell daherkommen, angefangen bei den diversen Varianten von holprigen Begrüssungsformeln und weiter mit <vermundartisiertem> Hochdeutsch-Text.> Erlauben Sie mir daher, dass ich heute für einmal auf die <Vermundartisierung> verzichte und die Eröffnungsrede in Schriftsprache halte.
Wie die meisten hier im Saal habe ich ein Doppelleben. Das heisst, dass ich neben meiner politischen auch einer beruflichen Tätigkeit nachgehe. Das ist nach meiner persönlichen Einschätzung einer der grossen Vorteile des Milizsystems: Was ich hier lerne und erfahre, kann ich dort gewinnbringend anwenden. Was ich dort weiss und mache, hilft mir hier, die Aufgabe zu bewältigen.
Beruflich arbeite ich mit Menschen in schwierigen Lebenslagen. Diese Menschen sind häufig verzweifelt, mutlos, resigniert. Viele haben den Glauben an ihre Zukunft verloren. Wer den Glauben an seine Zukunft verliert, verliert auch die Hoffnung, Hoffnung auf ein zufriedenstellendes und manchmal vielleicht sogar glückliches Leben. Und ohne diese Hoffnung wird das Leben noch viel schwieriger.
Es geht also darum, Wege zu suchen, dass wenigstens wieder ein Fünklein Hoffnung entstehen kann. Hier hilft das Modell des Kohärenzsinns von Aaron Antonovsky, einem amerikanisch- israelischen Soziologen. Der Kohärenzsinn ist das Gefühl eines Menschen für die Verbundenheit mit sich selbst und seiner Umwelt, seinem sozialen Gefüge. Ein ausgeprägter Kohärenzsinn bringt ein Gefühl des Vertrauens mit sich und ist die Basis für Hoffnung.
Drei Faktoren bestimmen dieses Gefühl des Vertrauens: Der erste ist die Verstehbarkeit. Damit ist das Verständnis für das, was mit einem und um einen herum geschieht, gemeint. Der zweite ist die Handhabbarkeit, also die Möglichkeit zur aktiven Mitgestaltung dessen, was mit einem und um einen herum passiert im Gegensatz zum hilflosen Ausgeliefertsein. Und der dritte schliesslich ist die Sinnhaftigkeit, das Erkennen von Sinn im Leben.
Das Schlüsselwort ist also Kohärenz. Fast nach jeder Volksabstimmung heisst es in den Kommentaren, dass die Kohärenz, gemeint ist der Zusammenhalt im Volk, verlorengeht. In politischen Diskussionen wird immer weniger nach Gemeinsamkeiten gesucht, Profilierung scheint nur noch mittels Heraufbeschwörung von Unterschieden möglich. Politische Entscheide werden nicht mehr verstanden, immer grössere Teile der Bevölkerung fühlen sich eher ausgeliefert als zur Mitgestaltung ermutigt, und ein Sinn im Ganzen wird nicht mehr gesehen. Aus Teilnehmenden am gesellschaftlichen Leben werden Desinteressierte oder sogenannte Wutbürger. Von denen gibt es offenbar schon so viele, dass sie sogar im Duden definiert werden, und zwar als <aus Enttäuschung über bestimmte politische Entscheidungen sehr heftig öffentlich protestierender und demonstrierender Bürger>. Im Wikipedia wird er beschrieben als ein konservativer Mensch, der nicht mehr jung, früher gelassen und staatstragend, jetzt aber zutiefst empört über die Politiker sei. Er breche mit der bürgerlichen Tradition, dass zur politischen Mitte auch eine innere Mitte gehört, wie etwa Gelassenheit. Das Verhalten des Wutbürgers sei ein Wehren gegen den Wandel.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Solches und Ähnliches ist vermehrt auch bei uns im Kanton auszumachen: weitgehendes politisches Desinteresse, tiefe Stimmbeteiligungen, bröckelnde Milizsysteme, unqualifizierte Stellungnahmen in den Medien, gefährliche Vereinfachung sind vielleicht Zeichen dafür, dass ich nun auch in der Politik dasselbe erlebe wie im Beruf: Die Hoffnung schwindet.
Dabei liegt das vielleicht auch an der Art der Hoffnung selber. Der amerikanische Politikwissenschafter Mark Lilla hat sich in der NZZ mit der Frage nach Hoffnung im Zusammenhang mit der amerikanischen Präsidentschaftswahl beschäftigt. Dabei kommt er zum Schluss, dass Amerikaner auf das Prinzip Hoffnung setzen und der Realitätssinn dabei auf der Strecke bliebe. Man denke, dass die Welt unendlich formbar sei und dass mit genügend Courage und Einsatz alles möglich werde. Man glaube, dass am Ende des Films der Held das Trümmerfeld stets im Triumph verlasse.
Diese Art der Hoffnung kann nicht gemeint sein. Die Hoffnung, von der ich hier spreche, beinhaltet, dass es uns als Personen und als Gesellschaft gelingt, uns mit der Welt zu arrangieren, so wie sie ist. Wir müssen unsere Grenzen erkennen und uns in ihnen einrichten.
Um das Wachsen dieser Hoffnung zu unterstützen, mag es hilfreich sein, wenn wir nicht vergessen als Volksvertreterinnen und -vertreter eben diesem Volk gut zu erklären, was wir hier tun, damit es verstanden wird. Dass wir ständig und aktiv für Mitgestaltung werben und diese auch zulassen. Und dass wir uns überlegen, ob es für das Erkennen eines Sinnes wohl mehr braucht als Diskussionen über Gesetze, Finanzen und Wachstum. Eduard Kaeser hat in der NZZ geschrieben: <Demokratie ist der politische Raum, der uns das Recht für das Fragen und Prüfen gibt. In ihm beugt sich die Macht dem Argument, nicht das Argument sich der Macht.>
Wenn ich einen Teil der aktuellen politischen Diskussion in diesem Kanton mitverfolge, erinnert mich das an meine Zeit im Gymnasium. Wir hatten damals einen Lehrer, der, wenn wir Schüler beim Ertönen der Pausenglocke unsere Sachen zusammenpackten, jeweils rief: Ich sage, wenn es läutet. Etwa mit der gleichen Logik wird heute von vielen argumentiert. Einige meinen sogar, sie selber seien die Glocke. Es gibt dafür einen neuen Begriff: die postfaktische Gesellschaft. Es geht nur noch um Stimmungen und Gefühle, nicht mehr um Fakten. Ich meine allerdings, dass das nichts Neues ist. Oder, wie der deutsche Politologieprofessor Thomas Kilche sagt: <Die Menschen waren schon immer von Torheit bedroht. Vernunft ist stets gebrechlich und muss verteidigt werden.>
Das ist manchmal amüsant, manchmal aber auch ziemlich beunruhigend.»
Peter Gut, 31. Oktober 2016