Sonntagsgedanken
So viel wie in den vergangenen Feiertagen wird mancherorts das ganze Jahr nicht gesungen – und selbst die grössten Singmuffel, die sonst ein wenig Angst vor stimmlicher Blamage haben, lassen sich in der Regel zum Mitsingen (oder -brummeln) bewegen, denn: Es gehört einfach dazu.
Singen ist für uns etwas Urtümliches. Im Singen geben wir unseren Gefühlen – schönen wie schweren –ganz direkt ein Gefäss, und das gesungene Wort kommt unmittelbarer von Herzen, geht zu Herzen, als Sprache allein – sei sie noch so wohl überlegt oder poetisch. Wenn wir gemeinsam oder für uns allein Lieder singen, geschieht mehr als Klangerzeugung: Es macht Mut, mobilisiert neue Energien (etwa beim Wandern), weckt Erinnerungen, hält Tradition lebendig und stiftet Gemeinschaft über sprachliche, kulturelle und soziale Grenzen hinweg. Singen kann zum stellvertretenden Medium werden für Wirklichkeiten und Wahrheiten unserer Existenz, wo uns die Worte fehlen, oder der Mut, sie auszusprechen. Darum sind Lieder ein fester Bestandteil in Religionen, darum singt man Liebeslieder, darum gehören Lieder zum Volksgut – und darum kann es an einem Fest geschehen, dass man spontan beginnt, in geselliger Runde zu singen. Lieder ereignen sich dort, wo wir von der Grösse des Lebens überwältigt werden oder wo unser Lebensgefühl nicht in rationalen Sätzen abgehandelt werden kann.
Auch und gerade der Naturjodel hat genau dort seine Stärke: wo gesprochene Worte unzureichend oder unnötig werden: als Ausdruck tiefer Verbundenheit mit der heimatlichen Lebenswelt. Nicht vergebens wird er auch von Auswärtigen als unmittelbar berührend, echt und tief zu Herzen gehend empfunden. Dass er sich manchmal mit Naturstimmen anderer Kulturen, die ein Ähnliches tun, verbinden kann, zeigt, dass dabei schlichtweg das Leben selbst zum Klingen gebracht wird. So wäre es doch ein schöner, unverfänglicher Vorsatz fürs neue Jahr: zu singen, das Lebens selbst zum Klingen zu bringen. Für sich allein, mit anderen. In der Badewanne, beim Kochen, beim Wandern, in der Werkstatt. In der Schule, in der Kirche. Auf den Gipfeln und in den Tälern des neuen Jahres.
Tobias Claudy