Die Szene erscheint dem braven Bürger, der braven Bürgerin verdächtig: Es trifft sich regelmässig im Dezember der Ausserrhoder «Kulturklüngel» und verteilt Geld unter seinesgleichen.
Die Szene erscheint dem braven Bürger, der braven Bürgerin verdächtig: Es trifft sich regelmässig im Dezember der Ausserrhoder «Kulturklüngel» und verteilt Geld unter seinesgleichen. Geld für Kunst, die niemand mehr versteht, Steuergeld für sicherlich linksgefederte und faule Künstlerinnen und Künstler? Schon beginnt man, sich zu ereifern! Selber rechtschaffen, soll man teuer Steuern bezahlen, damit andere auf unsere Kosten ein gemütliches Leben führen können? – Nein! Zu viel! Hört auf!
Die Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler sei es, die Gesellschaft zu hinterfragen. Mit diesem Satz aus dem Mund der Künstlerin begann Kollege Markus Fässler sein Porträt von Karin Bühler. Es erschien am 25. Januar in dieser Zeitung. Das Bühler-Porträt war eins von sechsen, die unsere Zeitung in den letzten anderthalb Monaten über die Profiteure von Werk- und Förderbeiträgen der Ausserrhoder Kulturstiftung publizierte. 80 000 Franken schüttete die Stiftung, die 1989 von Kanton, Gemeinden und Privaten zur Förderung des kulturellen Lebens in Appenzell Ausserrhoden gegründet worden war, aus. 80 000 Franken zum Fenster rausgeworfen?
Natürlich lautet die Antwort: JA!
Denn damit Kulturschaffende aller Sparten die Fördermittel aus dem Fenster schaufeln können, müssen sie erst einmal ein Fenster öffnen. Und in dem Augenblick, da sie es öffnen, dringt Frischluft in den zuvor abgeschlossenen Raum. Drinnen atmet man befreit die kühle Luft. Die regt zum Denken an, beschwingt.
In dem Augenblick, da ein Künstler, eine Künstlerin zwecks Geld-zum-Fenster-Rauswerfen ein Fenster öffnet, dringen Geräusche, Töne, Gespräche von aussen in den zuvor abgeschlossenen Raum. Drinnen hört man mit, wird neugierig, und so will man etwa die Sprechenden unterm Fenster sehen und steht auf.
Schon im nächsten Augenblick schreitet man zum Fenster und blickt ins Freie. Manche springen gar durchs Fenster hinaus, um das zunächst fremd Klingende, fremd Erscheinende aus der Nähe zu betrachten. Der Raum weitet sich, und die Möglichkeiten des Blicks und der Orientierung, der Inspiration und des eigenen Schaffens werden viele.
Das, freilich, mag in den einen oder anderen Ohren pathetisch klingen. Und das soll es nicht. Drum rege ich zu folgender Denkübung an. Setzen wir an die Stelle des Worts «Fenster» das Wort «Kunstwerk». Wer die obigen Abschnitte in dieser Weise durchdekliniert, erhält, was Karin Bühler mit Gesellschaftskritik umschreibt: suchen, beobachten, Fragen stellen – Fragen, die wir uns im Alltag nicht stellen, nicht zu stellen getrauen, die zu stellen, wir nicht imstande sind, wir Arbeiter, Managerinnen, Lehrer, Hausfrauen, Handwerker, Sozialarbeiterinnen, Pfarrer, Ärztinnen. Aus Zeitgründen nicht in der Lage sind – denn unser vielbeklagter Alltag ist ein hektischer und wird ohne Zweifel zusehends schwieriger zu meistern.
Fragen, die wir aber auch aus intellektuellen Gründen nicht in der Lage sind zu beantworten: Die Kunstgeschichte ist das Manifest der Menschheit. Die Geschichte des Menschen ist auch und ist im besonderen die Geschichte von Kultur(en) – und die ist aus der Position des Zeitgenossen in ihrer Gänze niemals zu überblicken.
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Deshalb brauchen wir dafür Spezialistinnen und Spezialisten. Genauso wie es die in der Medizin und in jedem andern Fachgebiet braucht. So masse ich mir als Journalist nicht an, ein Heizungsrohr zu verlegen, ein Baurechtsverfahren durchzuführen oder Krebszellen zu bestrahlen. Und wenn wir als Laien aus einer natur- oder wirtschaftswissenschaftlichen Doktorarbeit nichts herauslesen können, darf uns nicht verwundern, wenn wir Alltagsbürgerinnen und -bürger aus der Begründung eines Stiftungsrats für einen Werk- oder Förderbeitrag ebenfalls kaum mehr etwas herauslesen können. Schliesslich lesen wir in einem Urteil von Spezialistinnen über die Arbeit von Spezialisten. Die Kunstwerke allerdings sollten wir lesen können – Neugierde und Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Werk, mit uns selber, mit der Gesellschaft, mit der Welt vorausgesetzt.
Werk- und Förderbeiträge haben 2012 erhalten: Nora Rekade, Miriam Sturzenegger, Philip Amann, Lorenz Langenegger, Lukas Meier, Reto Staub und die bereits erwähnte Karin Bühler. Die Aufgabe der Künstlerinnen und Künstler sei es, die Gesellschaft zu hinterfragen, so lautet das künstlerische Selbstverständnis von Karin Bühler. Die Ausgezeichneten hinterfragen die Gesellschaft; sie öffnen sozusagen Fenster, indem sie eigene Gedanken und Empfindungen sichtbar machen wollen (Bühler), indem sie die Identität und die Essenz des eigenen Schlagzeugspiels suchen (Meier), indem sie alltägliche Bilder katalysieren und mit neuer Bedeutung anreichern (Rekade), indem sie über die Beschaffenheit und die Möglichkeiten von Raum nachdenken (Sturzenegger), indem sie den Tanz mit weiteren Kunstdisziplinen verbinden (Amann) und indem sie sich über das Experiment klanglich, rhythmisch und strukturell ins Klavierspiel vertiefen (Staub). Kurz: Indem sie (und das ist zentral!) die menschliche Ausdrucksweise weiterentwickeln. Das nötige Fachwissen in Kunst- oder Musikgeschichte und -theorie im Rucksack, körperliches oder handwerkliches Geschick und musikalisch geschultes Gehör inklusive.
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«Das Konventionelle wird kritiklos genossen, das wirklich Neue kritisiert man mit Widerwillen», schreibt Walter Benjamin in seinem epochemachenden Aufsatz «Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit». Die Pointe in Benjamins Wendung: Die Kritik am Neuen nehme in dem Masse zu, wie die gesellschaftliche Bedeutung von Kunst abnimmt.