BRAUCHTUM: Immer dem Heu nach

Die Tradition des «is Heu fahre» ist fast ausgestorben. Martin Rusch aus Urnäsch ist noch einer der wenigen, der den Alpabzug im Winter durchführt. Am Samstag geleitete er sein Vieh zurück auf den Hof.

Alessia Pagani
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Ist das Vieh angekommen, können die Sennen ein wenig entspannen.

Ist das Vieh angekommen, können die Sennen ein wenig entspannen.

Alessia Pagani

alessia.pagani@appenzellerzeitung.ch

Der Weg führt steil bergab. Emilia, Martin und Sämi sind gefordert und müssen sich beeilen. Die Geissen sind schnell unterwegs an diesem Mittag. Kaum war die Stalltüre geöffnet, zog es sie im Eiltempo in den Schnee und hinunter ins Tal. Dahinter folgen die 17 Kühe und acht Gaaltlig von Martin Rusch. Auch sie drängt es nach Hause. Bläss Bärli sorgt dafür, dass die Tiere nicht links und rechts ausscheren. Pfeilschnell prescht er regelmässig nach vorne, bellt und lässt die Tiere in die Reihe zurückkehren. Ein Pfiff genügt und Bärli nimmt wieder den Platz neben seinem Herrchen ein. Dieser bildet das Schlusslicht. Aufmerksam schaut er seinen Tieren zu. «Das Vieh ist wie der Bauer. Wenn dieser ruhig ist, ist es das Tier auch.» Zäuerli begleiten den Tross an diesem schönen, aber bitterkalten Tag in Urnäsch. Begleitet werden Martin Rusch und die drei Kinder von fünf Helfern. Willi Oertle, Walter Pfändler, Konrad Dietrich, Peter Nef und Walter Bodenmann helfen beim Alpabzug, bei dem die Tiere vom gepachteten Stall in der Schlatt in den Hof nahe des Dorfzentrums überführt werden.

Martin Rusch ist noch einer der wenigen Landwirte, die im Winter «usfuetered» beziehungsweise «z Heu fahret». Der Urnäscher kennt zwei andere, die es ihm gleichtun. Der fast vergessene Brauch stammt aus einer Zeit, als das Futter noch in den Gaden verstaut lag und nicht mit Fahrzeugen auf den heimischen Hof gekarrt wurde. So machten sich die Landwirte, wenn der Futtervorrat im Winter in einem Stall zur Neige ging, mit ihren Tieren auf zum nächsten Stall.

Am Mittag haben sich die sechs Sennen und drei Kinder in der «Taube» bei Ursi Frischknecht gestärkt. Eine Musik spielt auf, Martin Rusch und seine Gehilfen stimmen Zäuerli an, und Auswärtige und Einheimische sind eingeladen, Teil der Tradition zu werden. «Ich habe den Anlass organisiert. Kaum jemand kennt diesen Brauch noch. Das ist schade», so Frischknecht. Rusch nimmt jeweils seine beiden Söhnbe mit. Etwas, das ihm sehr wichtig ist. «Was man den Kindern mitgeben kann, ist ein guter Boden. Brauchtum schafft diesen», so Martin Rusch. Und noch eines sei wichtig: «Ein Betrieb braucht eine gute Frau.» Diese scheint Rusch gefunden zu haben. Monika begleitet ihre Familie jeweils bei den Alpab- und -aufzügen.

Martin Rusch hat seinen Hof mit Blick auf den Skilift 2007 von seinen Eltern übernommen und fährt seitdem jedes Jahr «is Heu». Jeweils von Oktober bis Januar und abermals einen Monat ab Anfang Mai verbringen die Tiere oben in der Schlatt. Seit 2014 führt er sein Vieh zudem Anfang Juni auf die Pfarrersnord in der Nähe der Scheidegg.

Am Nachmittag gegen 15 Uhr sind alle wohlbehalten auf dem Hof angekommen. Die Erleichterung ist gross. Es wird abermals ein Zäuerli angestimmt. «Als Ausdruck der Freude, dass alle wieder gesund zurück sind», so Rusch. Ein anstrengender und spannender Tag geht zu Ende – für Mensch und Tier.